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Philosoph Lutz Bergemann: Gesellschaft sollte Vielfalt grundsätzlich wertschätzen. Starre Rollenerwartungen schränken schließlich uns alle ein.

Ute Möller
10.04.2022
Lesezeit: 7 Min.

Wann ist ein Mann ein Mann?

Hart sein, Geld ranschaffen, cool grinsen: Männlichkeit muss nicht so sein! Lasst uns Rollenerwartungen endlich verändern, fordert Philosoph Lutz Bergemann

Friseur Bergemann Bochum, „wir bedienen Sie natürlich auch ohne Termin“. Ich weiß natürlich, dass ich mein Interview nicht mit Friseur Bergemann führen werde, sondern mit dem Privatdozenten für Philosophie Lutz Bergemann über die Frage frei nach Herbert Grönemeyer: Wann ist ein Mann ein Mann? Doch ich kann es mir nicht verkneifen, Lutz zu googeln und Bochum dazu. Meine vor allem in der Retrospektive geliebte Kindheits-Heimatstadt. Und dabei kommt mir Friseur Bergemann entgegen. Ich hätte Lust, da einen Termin zu machen – man weiß ja nie, ob es nicht plötzlich doch eng wird im Salon. Heimat ist schon ein besonderer Ort. Der kann sich verschieben, anderswohin wandern, aber vielleicht bleibt er doch immer nur der eine im Vergleich mit dem Neuen.

Lutz Bergemann und ich treffen uns über unsere zwei Videokonferenz-Kacheln hinweg und hoch die Tassen. Krombacher trifft auf Astra, wenn auch nur via seinen Bildschirm in Kiel und meinen in Nürnberg. Wir lachen, „wirkt schon etwas PR-mäßig“, meint Lutz Bergemann. Aber uns schmeckt‘s auch. Gut so und Prost. Ich frage Lutz, den Philosophen, zum Einstieg wie er aufgewachsen ist. Ich möchte darauf hinaus, wie er das sieht mit der Gendergerechtigkeit. Und da kann es nie schaden, vorne anzufangen.

Wann ist ein Mann ein Mann?  Immer tough, erfolgreich und cool? Philosoph Lutz Bergemann findet: Nö. Es geht um Vielfalt, weg mit den Klischees!
Prost von Kiel nach Nürnberg: Beim Online-Meeting mit Lutz Bergemann, unser Thema: Was ist das eigentlich, Männlichkeit?

Der Vater habe das Geld verdient, die Mutter ihn und seine Schwester versorgt. Soweit, so klassisch. „Aber es gab für meine Schwester nicht nur rosa Einhörner, wir haben mit den gleichen Sachen gespielt und beide mit Jungs und Mädchen.“ Seine Erziehung setzte ihn nicht auf ein bestimmtes Gleis und er habe das Gefühl, deshalb ziemlich privilegiert zu sein.

Typisch Mann? Der Vater verdiente das Geld

Lutz ist in meinem Alter, er machte 1988, ein Jahr vor mir, Abitur. „Ich dachte lange ziemlich naiv: Es gibt zwischen Mädchen und Jungs keinen Unterschied, was die Chancen auf einen selbstbestimmten Weg angeht“, sagt er. Ging mir auch so, wenn ich recht überlege bis zum Berufsstart in der Zeitungsredaktion. Alle können doch alles machen, dachte ich lange. Oder vielmehr: Ich dachte es gar nicht, weil ich ja noch gar nicht auf die Frage nach den Unterschieden gestoßen war.

Lutz ist so lieb und schickt mir ein Foto von sich mit Dosenbier, aufgenommen im Uni-Center in Bochum. Da hatte ich mal eine Studentenbude, jetzt geht Lutz da durch auf dem Weg zur Ruhr-Universität, wenn er unterrichtet. Natürlich ohne Büchse, die trank er extra und ausnahmsweise aufs Wohl von Flamingo und Dosenbier. Foto: privat

Lutz ging es vielleicht ähnlich, als er den Zivildienst antrat. Der Reserveoffizieranwärter, der sich für zwei Jahre verpflichtet hatte, scherte aus dem Bund aus. Als ihn nach einer Übung im Panzer ein Oberleutnant fragte, ob ihm das Schießen Spaß gemacht habe, sagte er: Dann wäre ich wohl fehl am Platz. Der Vorgesetzte brüllte, Lutz ging.

Und begann in der stationären Altenpflege zu arbeiten als einer der wenigen Männer unter vielen Frauen, auch in den Leitungsposten. Was eher aus Zufall so kam, sollte ihn fürs Leben prägen.

Warum spielt Kompetenz eine geringere Rolle, nur weil sie weiblich ist?

„Damals hätte bei mir schon der Groschen fallen können, ich hätte bemerken können, wie gering bewertet und bezahlt die Arbeit in der Altenpflege ist und dass es kein Zufall ist, wenn da so viele Frauen arbeiten. Ich hätte merken können, dass das nicht in Ordnung ist. Ich sah aber einfach kompetente Kolleginnen, die gute Arbeit machen.“ Man kann nur sehen, wofür man sensibilisiert ist. Das kam dann noch, bei Lutz und bei mir. Er stellte sich dann irgendwann die Frage: „Warum spielen kompetente Menschen gesellschaftlich eine geringe Rolle, nur weil sie weiblich sind?“

Im Nachhinein sei ihm auch aufgefallen, dass er sich manchmal dafür rechtfertigen musste, dass er in der Altenpflege arbeitete, „aber in der Zeit davor nicht dafür, dass ich mich für das Töten ausbilden ließ.“ Auch seine Mutter habe sich gefragt, ob es das Richtige für ihn ist, alte Menschen zu pflegen. Und wie es im Lebenslauf aussieht, dass er verweigert hat. „Hab ich ja gar nicht komplett und für mich war der Ausstieg bei der Bundeswehr auch befreiend: Ich hatte gelernt, dass ich etwas nicht durchziehen muss, wenn ich für mich erkenne, dass es falsch ist.“ Männer sind hart, greifen durch, bleiben dran. Ja, ja. Nein, nein. Genderstereotype sind auch für Männer eine Zumutung.

Immer hart sein, erfolgreich und cool: Das Bild von Männlichkeit hatte Lutz Bergemann noch nie. Es bleibt aber eine Aufgabe, dafür einzutreten. Foto: privat

Lutz Bergemann promovierte 2004 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel in Philosophie, 2010 folgte die Habilitation an der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster. Dass mit Philosophie selten viel verdient ist, kümmerte ihn nicht. Er arbeitete nebenbei viele Jahre weiter als Pflegehelfer in Teilzeit in der Altenpflege. Insgesamt waren es 15 Jahre, in Kiel und in Berlin, wo er nach seiner Arbeit an einem Sonderforschungsbereich der Humboldt-Universität auch am Institut für Griechische und Lateinische Philologie der Freien Universität eine Vertretung der Professur für Mittellatein übernahm.

Die Arbeit als Pflegehelfer (und ehrenamtlich in der Krisenintervention und in der sozialen Betreuung von Menschen mit Demenz) prägte später auch sein wissenschaftliches Interesse. Care Ethik, ein Aspekt der feministischen Ethik, ist einer seiner Forschungsschwerpunkte, ebenso wie Medizinethik. In Erlangen gehörte Lutz ab 2016 für fünf Jahre zum Klinischen Ethikkomitee des Universitätsklinikums. Dort lernte er Caroline Hack kennen, die mir Lutz für ein Interview empfohlen hat. „Wir haben eine gemeinsame weltanschauliche Basis“, sagt Lutz. Und eine gute Freundschaft.

Die Care Ethik sieht das Individuum im Geflecht all seiner Beziehungen und Abhängigkeiten. Diese verändern sich je nach Situation. „Wenn ich in die Arbeitsagentur gehen muss, fühle ich mich zum Beispiel anders, vielleicht ausgelieferter, als wenn ich an der Hochschule ein Seminar besuche. Auch die Bedürfnisse ändern sich mit dem Setting. In der Klinik möchten auch ältere Patientinnen und Patienten verstehen, was mit ihnen passiert und das System sollte es hergeben, dass sich Ärztinnen und Ärzte für sie mehr Zeit nehmen können.“

Egal ob Frau, Mann… Es geht um Achtung und Anerkennung

Lutz Bergemann wünscht sich eine Gesellschaft, die Vielfalt grundsätzlich wertschätzt und die sich ehrlich bemüht, unterschiedliche Lebenswirklichkeiten zu achten. Unterschiede zwischen Frauen und Männern, kulturellen Herkünften, sozialen Prägungen, Handicaps, Begabungen und Wünschen verdienten schlicht und ergreifend wechselseitige Achtung und Anerkennung.

„Das sprachlich auszudrücken, ist fast noch die einfachste Übung.“ Die teils erbitterten Widerstände gegen das Gendern verstehe er nicht. „Aber es ist natürlich anstrengend, Normen zu hinterfragen. Sprache schafft Wirklichkeit, sie definiert Kategorien, die eigentlich die Aufgabe haben, die Wirklichkeit handhabbar zu machen.“

Aber Festlegungen wie „das starke oder schwache Geschlecht“ verfestigen auch immer wieder destruktive Stereotype und zementieren Machtverhältnisse. „Das zu hinterfragen, macht das Leben nicht einfacher und kann einen überfordern.“

Mehr darauf zu achten, wo seine Studierenden, egal welchen Geschlechts, Ermutigung brauchen – das hat sich Lutz vorgenommen. Foto: privat

Gesellschaftlicher Wandel ist ein langer Prozess, der immer wieder Phasen der Ruhe und kritischen Reflektion benötigt. Wer nicht mit Abstand auf die Dinge sieht, kann sie nicht verändern. Achtsamkeit ist dafür ein ganz passender Begriff.

Skrupel haben alle, Stärken aber auch

Aktuell lehrt Lutz an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum Sozialphilosophie und Ethik. Dort kann man Soziale Arbeit, (Heil- und Elementar-)Pädagogik, Pflegewissenschaften und Gesundheitsmanagement studieren. „Ich schließe nicht aus, dass ich bislang als Dozent noch nicht genug darauf geachtet habe, ob Studentinnen und Studenten manchmal eine unterschiedliche Art des Umgangs brauchen.“

Er erinnere sich gut an eine Mitstudentin an der Uni in Kiel, die wahnsinnig gewissenhaft und gut gearbeitet habe, „trotzdem war sie mit ihren Ergebnissen nie zufrieden“. Ist eine Studentin oder ein Student voller Skrupel und Selbstzweifel, sei es seine Aufgabe als Dozent dabei zu helfen, die eigenen Stärken zu erkennen und zu ermutigen.

Letztlich sei es aber die Aufgabe aller, Strukturen aufzuweichen und sich darum zu kümmern, wie es anderen geht, und zwar ganz konkret den Menschen im eigenen Leben. „Denn wir sind alle verletzlich“, starre (Rollen-)Erwartungen schränken uns alle ein. „Doch Veränderungen können Angst machen.“

Lutz Bergemann lebte nie das klassische Familienmodell. Er ist seit 27 Jahren mit seiner Lebensgefährtin zusammen, die als Handwerkerin die meiste Zeit mehr verdient hat als er. Sie haben keine Kinder, demnächst wollen sie heiraten. „Langsam können wir diesen Schritt mal gehen“, sagt Lutz und wir lachen. Nach 27 Jahren sind viele Paare schließlich längst wieder getrennt. „Ich werde mich aber besser fühlen, wenn Solveig zusätzlich finanziell abgesichert ist, falls ich vor ihr sterbe.“ Jetzt endlich, mit über 50, habe er eine unbefristete Stelle, die dies möglich mache.

Veränderung macht Angst – wann hält uns das endlich nicht mehr auf?

Diesen Erwartungsdruck an Männer – Versorger sein, die starke Schulter hinhalten, immer tough und unerschütterlich– hat er nie an sich rangelassen. Vielleicht hat das tatsächlich mit seiner Kindheit zu tun, in der er immer das Gefühl hatte, dass zwischen Mädchen und Jungs im Tun und Handeln kein Unterschied gemacht werde.

Das wäre eine gute Sache. Mir fällt in diesem Zusammenhang ein, dass es in den 70er und 80er Jahren bei Lego noch keine Genderunterschiede gab. Wir alle bauten mit blauen, roten oder gelben Bausteinen das, worauf wir Lust hatten.

Spielzeug prägt. Die Tochter einer Freundin hat eine Zeitlang nackte Barbies gefesselt und an Stuhlbeine gebunden. Für mich war Barbie immer diejenige, die im Campingbus bei Reisen mit Ken den Ton angab. Stereotype sind nichts für Weicheier, gegen sie anzuleben kostet Kraft. Wer eine Weile ohne sie spielen darf, hat Glück. Wir können unseren Kindern diese Freiheit schenken. Ich habe nur leider das Gefühl, dass auch das für Eltern nicht leichter wird. Veränderung ist anstrengend und macht Angst, aber verdammt noch mal, wann hören wir endlich damit auf, uns davon aufhalten zu lassen?