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„Ich habe gelernt, dass ich freier bin, als ich dachte": Anna Wiedenroth ganz entspannt im Urlaub.

Ute Möller
01.02.2022
Lesezeit: 6 Min.

„Typisch weiblich – was soll das sein?“

Von wegen nur kümmern, kochen, brav sein: Frauen können alles tun, sagt Anna Wiedenroth und macht es vor.

Es war im September vor sechs Jahren, die SPD feierte im Serenadenhof in Nürnberg ihr 150-Jähriges. Ich saß als Pressevertreterin in einer der vorderen Reihen, neben mir Kollegen anderer Medien, alles Männer. Vor uns nahm ein Funktionsträger der Sozis aus Nürnberg Platz, vorher begrüßte er alle meine Kollegen mit einem launigen Spruch. Mich übersah er.

Damals war ich längst kein Neuling mehr in der Branche. Ich hatte den Nürnberger Sozialdemokraten oft in Artikeln zitiert und auch mal kritisiert. Er kannte mich also. Dass er mich nicht grüßte, nahm ich persönlich. Ich fühlte mich abgewertet. Vielleicht zu recht, dachte ich. Und stellte meine Arbeit in Frage.

Ich habe erst spät in meinem Leben begriffen, dass es für Frauen und Männer im Job unterschiedliche Regeln, Möglichkeiten und Grenzen gibt. Noch mit 46, in Reihe 5 im Serenadenhof, war mir nicht klar, dass machtbewusste Männer gern mal einen auf Kumpel machen und lieber im geschlossenen Stuhlkreis ihre Witze reißen. Da ergibt sich eher selten eine Lücke für Frauen. Das persönlich zu nehmen ist Blödsinn. Aber wie gesagt, mein Lernprozess dauerte lange.

Es geht leider nicht nur um Leistung

Vielleicht deshalb spreche ich gerne mit jüngeren Frauen. Über die Klischees, die ihr Leben mitbestimmen. Über ihr Selbstverständnis. Als Frau, im Job, in der Familie. Ich wünsche mir, dass ihnen Genderbarrieren früher klar sind als mir. Weil sie dann nicht nur auf ihre Leistung vertrauen, sondern auch cleverer die Hürden nehmen.

Ich habe Anna Wiedenroth zufällig bei einem Online-Vortrag kennengelernt. Ich mochte ihre nüchterne und selbstbewusste Art zu argumentieren. Es ging um das Thema, wie sich Genderforschung und technische Entwicklungen zusammenbringen lassen. Ich rief sie nach der Veranstaltung an und wir verabredeten uns zum Interview.

Gespannt, was der erste Job bringt: Annas Bewerbungsfoto.Foto: Martina Stange

„Der erste Feminist in meinem Leben war mein Freund“, erzählt sie mir. Im Saarland, irgendwo zwischen Stadt und plattem Land, sei sie in einer sehr konservativen Familie groß geworden. Die Geschlechterrollen waren klar. „Die Frau kümmert sich um die Kinder und die Familie. Auch für mich stand damals fest, dass ich das später mal so mache“, erzählt die 24-Jährige.

Und ich höre zu und höre auch: Diese verflixten Rollenzuschreibungen sind so verdammt hartnäckig. Es ist nach wie vor so, dass jede Frau, aber auch jeder Mann, den Weg durchs Gender-Labyrinth finden muss. Um am Ziel mit viel Glück so etwas wie Selbstbestimmung zu finden.

Anna kam damals jedenfalls nicht auf die Idee, das traditionelle Rollenbild in Frage zu stellen. Auch deshalb, weil es niemanden gab, der ihr ein anderes Selbstverständnis vorgelebt hätte. Sie habe es nicht mal als einschränkend empfunden. „Ich durfte ja alles machen – im Dreck spielen, später reisen, wohin ich wollte. Nur sobald ich eine eigene Familie hätte, war meine Rolle halt klar.“

Sie hat im Rückblick den Eindruck, dass Jungs in ihrem konservativ geprägten Umfeld fast noch stärker durch die Erwartungen belastet wurden als sie. „Jungs können ja auch darunter leiden, wenn sie schon früh in die spätere Rolle als Versorger gedrängt werden.“

Anna ging nach dem Einser-Abitur nach Osnabrück, um Cognitive Science zu studieren. Der in Deutschland einzigartige Studiengang erforscht kognitive Fähigkeiten wie Wahrnehmen, Denken, Lernen, Sprechen und Handeln. Annas Fächer sind eine bunte Mischung aus Mathe, Informatik, Computerlinguistik, Neurobiologie, Neuroinformatik, Philosophie des Geistes, Kognitive Psychologie und Künstliche Intelligenz. Sie lernte zu programmieren und philosophisch auf die Welt zu blicken. All das öffnete neue Räume in ihrem Leben. Im Frühjahr gibt sie ihre Masterarbeit ab.

„Ich bin gar nicht die Kümmerin“

Gleich zu Beginn des Studiums mischte ihr Freund Annas Weltbild ziemlich durcheinander. „Seine Eltern haben ihm ganz andere Werte vermittelt. Seine Mutter hat wenige Wochen nach seiner Geburt wieder gearbeitet, sein Vater war Hausmann.“ Beim Thema Kinder machte ihr Freund Anna klar, dass er auch zu Hause bleiben will, um sich zu kümmern.

„In Gesprächen mit ihm wurde mir klar, dass ich auch gar nicht die Kümmerin bin, die gern für andere einkauft, kocht und immer nett ist. Ich begann mich zu fragen, warum ich trotzdem darauf bestand, als Mutter daheim zu bleiben.“

In einem Seminar las sie das Buch „Die Macht der Vorurteile über Mann und Frau“ von Cordelia Fine.  „Ich stellte mir vor, wie unsere Gesellschaft aussähe, wenn wir nicht in den Kategorien von männlich und weiblich denken würden?“ Tatsächlich gebe es ja nur Persönlichkeitsattribute. „Jede und jeder kann für sich entscheiden, ob sie oder er sich gerne kümmert oder lieber für andere Dinge losgeht. Typisch weiblich oder männlich gibt es nicht, jede und jeder ist frei, sich seine Attribute auszusuchen.“

Küche, Kinder, Kümmerin: Annas Weg ist das nicht. Dass sie anders wählen kann, war ihr lange nicht klar.

Dass es eine gesellschaftliche Konvention ist, wenn wir bestimmte Eigenschaften unterschiedlichen Geschlechtern zuordnen, scheint jede Generation neu lernen zu müssen. Und es brauche Vorbilder, sagt Anna. Menschen, die einem vermitteln: „Was die Gesellschaft Frauen zuschreibt, beschreibt nicht zwangsläufig auch mich.“ Sie habe jedenfalls aufgehört über Erwartungen nachzudenken. „Ich habe gelernt, dass ich freier bin, als ich dachte.“

Nicht jede und jeder hat das Glück Menschen zu treffen, mit denen sich das eigene Rollenverständnis hinterfragen lässt. Annas Erfahrungen zeigen mir, wie wichtig es ist, über gesellschaftliche Stereotype offen zu sprechen. Die eigene Haltung zu zeigen und auch zur Diskussion zu stellen. Möglichst oft.

„Ich kannte früher keine Frau in der IT-Branche“

Anna lernte während des Studiums zu programmieren, ihre berufliche Zukunft sieht sie in der IT-Branche. „Als ich noch zur Schule ging, hätte ich nie daran gedacht, ein reines Informatik-Studium anzufangen. Ich kannte keine Frau aus der Branche und von Programmierern hatte ich das Klischeebild vom männlichen Nerd im Kopf, der mit fettigen Haaren allein vorm PC sitzt. Mir hat auch keiner erklärt, was Informatik ist.“ In ihrem Studiengang ist Informatik ein Teilaspekt, dies ermöglichte ihr den Zugang.

Heute möchte Anna am liebsten alle Frauen dazu ermuntern, Informatik zu belegen. „Es ist wie Rätsellösen und macht total viel Spaß. Außerdem werden dringend Fachleute gesucht und man kriegt einen gut bezahlten Job.“ Für sie ist das auch eine Machtfrage. Frauen hätten in der Informatik gute Chancen auf einflussreiche Jobs.

Ohne Rolemodels geht es für Anna nicht.  Es sei wichtig, Mädchen schon in der Schule an Informatik heranzuführen. Am besten gehe das, wenn sie Frauen erleben, die den Weg schon gegangen sind. Anna kann sich gut vorstellen, an ihrer alten Schule davon zu erzählen, wie cool sie Informatik und künstliche Intelligenz findet.

Sie selber hat eine Mentorin gefunden, die in einem großen Unternehmen in der IT-Abteilung arbeitet. Für Anna geht es schon bald um den ersten Job, ihre Mentorin sprach mit ihr auch darüber, wie sie mit diskriminierenden Momenten im Büro umgeht. „Wenn sie einen sexistischen Witz hört, antwortet sie zum Beispiel mit einem sexistischen Witz über Männer, das finde ich cool.“

Flamingo und Dosenbier goes Tech: Anna platziert auf ihrem Schreibtisch ihren PC zwischen Online-Magazin und feministische Literatur. Foto: Wiedenroth

Demnächst spricht sie mit ihrer Mentorin darüber, wie sich Beruf und Familie unter einen Hut bringen lassen. Befreit von den Erwartungen, die ihre Eltern ihr mitgaben, will Anna da ihren eigenen Weg finden. „Es war so anstrengend so zu tun, als wäre ich eine nette, zurückhaltende Frau, die wenig sagt und fordert.“  Die sei sie nicht mehr.

„Wir wollen keine Panzerschicht“

Jetzt ist sie gespannt, was sie im ersten Job erwartet. Wir verabreden, dass wir uns in einem Jahr darüber unterhalten. Zum Schluss sagt Anna noch: „In meiner Generation geht es nicht mehr so sehr darum, dass Frauen ihr biologisches Geschlecht ausklammern und sich tough nach oben kämpfen. Wir wollen keine Panzerschicht um uns herum, sondern als ganze Menschen und empathisch erfolgreich sein.“ Auch Männer hätten keine Lust mehr auf die alten Zuschreibungen. „Die Rolle des starken Alleinversorgers funktioniert auch für sie nicht mehr.“ Wenn das kein Grund zur Hoffnung ist… 

Mal schauen, was Annas berufliche Zukunft bringt. Wir haben verabredet, uns in einem Jahr darüber zu unterhalten. Foto: brooke-lark/unsplash

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