Ich erwische Andrea Kuhn, die Leiterin des Internationalen Menschenrechtsfilmfestivals Nürnberg, kurz vor 11 Uhr am Eröffnungstag telefonisch in der Regionalbahn. Daheim in Erlangen, steht sie seit 2007 als Gesicht und mit klarer Haltung für das weit über Nürnberg hinaus bekannte Festival. Es findet alle zwei Jahre statt, 2023 sprachen wir miteinander über Diversität in der Filmbranche und politischen Rechtsruck. Die politische Lage ist seitdem nicht besser geworden. Bevor Andrea Kuhn im Nürnberger Künstlerhaus in die erste Besprechung des Tages geht, reden wir darüber, was Film den aktuellen Zeiten der Krisen entgegenzuhalten vermag.
Liebe Andrea Kuhn, das Nuremberg International Human Rights Film Festival (NIHRFF) findet vom 15. bis 22. Oktober statt. Es ist laut des Verbands Bayerischer Filmfestivals „Deutschland größtes und wichtigstes Filmfestival zum Thema Menschenrechte“. Das ist groß. Was kann Filmkunst in herausfordernden Zeiten, in denen die Menschenrechte vielerorts in Gefahr sind, bewirken?
Andrea Kuhn: Ich beobachte bei vielen Menschen eine Angst und Verzweiflung mit Blick auf die Richtung, in die sich Politik entwickelt. Die Rechtsextremen werden immer stärker, doch es hält sich die Überzeugung, dass man sie „wegregieren“ könne. Dafür übernehmen Parteien der politischen Mitte rechte Positionen. Die AfD greift Kultur und Wissenschaft an, und auch CDU/CSU machten vor der letzten Bundestagswahl Stimmung gegen Medien, Kultur, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Ich erinnere nur an die Anfrage im Bundestag, welche staatlichen Fördermittel zum Beispiel die Omas gegen Rechts bekommen.
In anderen Ländern sehen wir, wohin es führt, wenn politische Debatten zunehmend rechtsextreme Narrative benutzen. Noch mal: Was kann Kino dagegenhalten?
Film kann Reflexionsräume öffnen. Er erschafft Bilder, die atmen, die lange Geschichten erzählen.
Was ja an sich schon ein Gegenkonzept ist zu den 30-sekündigen Reels und den nach 24 Stunden gelöschten Storys auf Instagram. Film kann tatsächlich erzählen und nicht nur Botschaften der (Selbst-)Inszenierung verkaufen.

Und filmische Bilder können Menschen überraschen. Film kann den Blick öffnen, Zugang zu unbekannten Erfahrungen schaffen. Hinzu kommt, dass das Kino ein Ort des Austauschs, der Solidarität und der Stärke sein kann. Wir haben die Hoffnung, dass während des Festivals eine Gemeinschaft entsteht. Die Gäste können mit uns als Festivalteam, mit den eingeladenen Regisseurinnen und anderen Gästen ins Gespräch kommen.
Ihr habt drei Podiumsdebatten im Programm. Weil ihr der Meinung seid, dass der Gesprächsbedarf in unruhigen Zeiten besonders groß ist?
Internationale Krisen wie der Ukrainekrieg, der Krieg in Israel, die Zunahme rechtsextremer Regierungen, der Verlust von Orten für offene demokratische Debatten – das alles hat die Vorbereitung des Festivals natürlich mitbestimmt. Wir sind davon überzeugt, dass Menschen diskutieren wollen, jenseits von Bilderfluten und vorgefassten Meinungen. Wir diskutieren jeweils im Anschluss an einen Film, wollen aber den Blick auf Themen, die uns besorgen, weiten. So geht es am 17. Oktober im Anschluss an den Film „Splitter aus Licht“, der unmittelbar nach der Befreiung von der russischen Besatzung die Menschen in Butcha zeigt, darum, welche strafrechtlichen Konsequenzen die russischen Kriegsverbrechen haben. Wir werden aber mit den Regisseurinn*en Marcus Lenz und Mila Teshaieva sowie einer Völkerstrafrechtlerin sicher auch auf den Krieg in Israel und andere Konflikte zu sprechen kommen.
Ein zweites Podium befasst sich mit der Pressefreiheit.
Der Dokumentarfilm „My undesirable friends, Part 1 – Last air in Moscow“ begleitet Sonya Groysman und Olga Churakova, zwei der prominentesten Bloggerinnen Russlands, und ihre Kolleginnen des inzwischen verbotenen Fernsehsenders „Doschd“. Beide erzählen am 18. Oktober auf dem Podium vom Weg bis zum endgültigen Ende jeglicher Pressefreiheit in Russland. Und wir werden sehen, was das mit den Entwicklungen bei uns zu tun hat.
Welche Parallelen siehst Du zur deutschen Presselandschaft?
Ich finde es bedenklich, wenn die Presse unreflektiert rechte Kampfbegriffe benutzt. Sie reagiert oft, getrieben durch die sozialen Medien, vorschnell auf Entwicklungen. Journalistische Arbeit wird in Zeiten des Internets zurückgedrängt, das finde ich sehr bedenklich.
Kannst Du konkrete Beispiele nennen?
Die Presse hat einen Anteil daran, dass zuletzt Proteste kriminalisiert wurden. So wie die Klimaproteste der „Letzten Generation“ oder die gegen den Israelkrieg. Grundsätzlich sind Medien aber zur Neutralität verpflichtet. Ebenso schwierig finde ich es, wenn Medien Standpunkte und Ideen häufig wiederholen, obwohl diese bereits wissenschaftlich widerlegt sind oder nur von einer sehr kleinen Minderheit vertreten werden. Dadurch können sich Diskurse drehen. Die Politik versucht gerade sehr stark, Kultur und Wissenschaft auf Linie zu bringen. Beispielsweise, wenn Kulturstaatsminister Weimer fordert, alle öffentlich geförderten Kultureinrichtungen müssten sich an das Genderverbot halten. Diskurse verändern sich aktuell sehr stark, ich wünsche mir da eine Einordnung durch die Presse. Die Medien in Deutschland versagen ganz sicher nicht komplett, aber wenn sie politische Narrative einfach übernehmen und nicht reflektieren, warum diese eingeführt werden, stört mich das.
Vor zwei Jahren sprachen wir auch darüber, dass die Filmbranche nicht besonders divers aufgestellt ist. Es gibt nur wenige Regisseurinnen* und die Arbeitsbedingungen für Frauen* sind oft schwierig. Hat sich da seit 2023 etwas zum Guten verändert?
Ich kann leider nicht sagen, dass der Einfluss von Frauen* in der Filmbranche größer geworden ist. Die Zahlen sind eher rückläufig. Ich beobachte mit Sorge, dass Politik gerade unter dem Deckmantel des „Neutralitätsgebots“ versucht, die Idee der Diversität grundsätzlich auszuhöhlen.
So wie durch das Verbot der Regenbogenflagge am Bundestag …
Wir haben lange für die Sichtbarkeit derjenigen gekämpft, die nicht am großen Kuchen beteiligt sind. Jetzt sollen die plötzlich sprachlich mitgemeint sein, wenn nur die männliche Form benutzt wird. Wir müssen aufpassen, dass das, was wir feministisch in den letzten Jahren erkämpft haben, jetzt nicht zurückgedreht wird.