Svitlana Mykhailenko und ich treffen uns zum ersten Mal persönlich auf dem Nürnberger Kornmarkt, ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Am 24. Februar 2022 endete Svitlanas Leben in Kyiv, wie sie es kannte. Am 24. Februar 2023 verteilt sie Kerzen an ukrainische Jugendliche für den Lichterzug vom Kornmarkt zur Lorenzkirche.
In Kiew gründete Svitlana 2017 das Deutsche Theater. Sie arbeitet vor allem mit Kindern und Jugendlichen. Regelmäßig fahren sie nach Deutschland, finden Freunde. Auch in Nürnberg. „Ich hatte in Kyiv einen coolen Job und wollte nichts anderes machen“, erzählt sie.
Doch dann überfiel Russland die Ukraine. Und sie fuhr mit zwölf Jugendlichen wieder nach Nürnberg. Doch dieses Mal ging es nicht um einen schönen Ausflug, sondern um Flucht vor dem Krieg. Die Eltern der Mädchen und Jungen baten sie: Bring unsere Kinder ins sichere Nürnberg. Du hast doch Kontakte. Und Svitlana organisierte die Reise.
Sie selber kommt bei Anja Sparberg, der Theaterpädagogin des Nürnberger Staatstheaters, unter. Die Jugendlichen wohnen zunächst kostenlos in der Nürnberger Jugendherberge. „Ich wollte nur drei Monate bleiben“, erinnert sich die zierliche Theatermacherin. Doch die seien so schnell rum gewesen. Dann beantragte sie eben doch einen Aufenthaltstitel. Und arbeitete weiter mit den ukrainischen Teenagern. Auf der Probebühne des Nürnberger Staatstheaters und auch in der Tanzwerkstatt von Ingo Schweiger in Nürnberg-Gostenhof taten sie immer und immer weiter das, was sie aus der Heimat kannten: Auf der Bühne improvisieren, Theaterszenen entwickeln. Aber, und das ist wichtig: Zusammen mit deutschen Jugendlichen.
Theater als Schlüssel zur Integration
Svitlana unterrichtet auf Deutsch und Ukrainisch. Und siehe da: Im Alltag und in der Schule trauen sich die ukrainischen Jugendlichen oft nicht, Deutsch zu sprechen. Aber auf der Bühne geht es. Svitlana schreibt deshalb jetzt an einer Projekt-Idee: Wie wäre es, wenn das Theater der Schlüssel zur gelingenden Integration wäre? Wenn ein Sprachclub, ein Tanzkurs, gemeinsames Kochen und Literaturabende mit ukrainischen und deutschen Jugendlichen schaffen können, was Schule oft nicht gelingt? Einander zu verstehen, nämlich. Aufeinander zu schauen, sich wertzuschätzen, sich zu trauen, Fragen zu stellen. Und einander Antworten zu geben.
Sollte das Projekt, das Svitlana mit der Tanzwerkstatt konzipiert, Fördermittel bekommen, bliebe sie drei weitere Jahre in Nürnberg. Ihr Leben hier beginnt immer mehr, feste Formen anzunehmen. Ohne dass sie das eigentlich wollte.
Svitlana kam mit den Jugendlichen nach den ersten Luftangriffen aus der Ukraine in Nürnberg an. Ihr Vater war kurz vor Beginn des russischen Angriffskriegs gestorben, ihre Mutter wollte in der Ukraine, in Charkiv, bleiben.
Svitlana pendelte von Anfang an alle sechs Wochen zwischen Nürnberg und Charkiv und dem von dort 400 Kilometer entfernten Kyiv. „Anders kann ich es nicht aushalten“, sagt sie. Das Deutsche Theater – ihr Theaterlabor, ihre kreative Heimat – werde zum Glück auch aktuell weiter bespielt. Sie könnte jederzeit zurück. Wenn nur der Krieg zu Ende wäre.
Alle paar Wochen nach Charkiv
Sie kenne viele Ukrainerinnen, die alle paar Wochen von Nürnberg in die Ukraine zu ihren Familien und Ehemännern in den Krieg fahren. Damit die Kinder den Vater sehen. Aus Sehnsucht. Damit die Familie trotz Krieg und Flucht hält.
„In Nürnberg bin ich immer im Stress, denn wenn meiner Mutter oder meinen Freunden in der Ukraine etwas passiert, kann ich nicht bei ihnen sein“, erzählt Svitlana. In Charkiv fühle sie sich trotz Sirenen und Luftangriffen entspannter. Natürlich fahre im Zug von der polnisch-ukrainischen Grenze bis zu ihrer Mutter auch die Angst mit. Doch angekommen sei sie ruhig. Zu Hause.
Jetzt machen wir, nachdenken tun wir später
Ihr helfe sehr, was ihr ein befreundeter Philosoph in Mariupol geraten habe: „Svitlana“, sagte er, „lass uns jetzt machen, nachdenken tun wir später.“ Ihr ist es unendlich wichtig, in Nürnberg aktiv zu sein. „Mich hat gerettet, dass ich etwas für andere Menschen tun kann.“ Für „ihre“ ukrainischen Teenager. „Im Moment ist Kultur für mich die Antwort, der Austausch miteinander, aber vielleicht ist es bald schon etwas anderes“, sagt sie.
„Ich kam nach Nürnberg ohne etwas zu erwarten, ich war einfach verzweifelt“, erinnert sie sich ein Jahr nach Kriegsbeginn. Sie wundere sich selber, wie viel entstanden ist, seit sie hier ist. „Einfach so.“ Und dank vieler Menschen, die ihre Projekte mit Leben füllen. Was auch eine wunderbare Antwort auf den schrecklichen und menschenverachtenden Krieg ist. In fast 1400 Kilometern Entfernung.