Im Nürnberger Stadtteil St. Leonhard klagen Frauen über sexuelle Belästigungen. Jetzt muss gehandelt werden.
Ich arbeite gerade mit der Künstlerin Anja Schoeller an dem Kunstprojekt „Urtica Dioica“ im Nürnberger Stadtteil St. Leonhard. Im Mittelpunkt stehen die Frauen im Viertel. Für das Projekt habe ich Frauen gefragt, wo sich Flamingos im Viertel wohlfühlen könnten und welche Farbe der Kiez für sie hat. Stellenweise vielleicht Pink wie Flamingogefieder? Doch aus dem Spaß wurde Ernst.
Denn die Frauen erzählten, kaum dass ich sie angesprochen hatte, dass sie auf der Straße immer wieder von Männern belästigt werden. Dass ihnen Männer sexistische Sprüche nachrufen, sie nach ihrer Telefonnummer fragen, ihren Körper kommentieren, einfach keine Ruhe geben. Dass sie sich unsicher fühlen, bedrängt, dass sie Angst haben.
Der öffentliche Raum im Nürnberger Stadtteil St. Leonhard, dem das Etikett „Brennpunktviertel“ anhaftet, weil hier mehr Menschen mit geringem Einkommen, mit Migrationsgeschichte und mehr Alleinerziehende als durchschnittlich im Rest der Stadt wohnen, scheint für viele Frauen nicht sicher zu sein. In dem Viertel gab es viele Jahre ein Quartiersmanagement, öffentliche Gelder flossen hierher. War Sexismus, waren die sexuellen Belästigungen, war die Lebenssituation der Frauen kein Thema?

Ich erzähle städtischen Mitarbeiterinnen, die in St. Leonhard arbeiten, von den Erfahrungen der Frauen. Auch Pädagoginnen und Sozialarbeiterinnen spreche ich darauf an. Sie sind entsetzt. Wir fragen uns, was zu tun ist.
Jetzt Handeln gegen sexuelle Belästigungen
Gendergerechte Stadtplanung, die den Lebensalltag von Frauen in den Blick nimmt, gibt es seit über 30 Jahren. Hinschauen, mit Frauen sprechen, Bedarfe klären, sie in stadtplanerische Prozesse einbinden, Aktionen starten, damit sich Frauen den öffentlichen Raum zurückerobern – ich habe den Eindruck, dass es höchste Zeit ist, in St. Leonhard zu handeln.
Für meine Straßenumfrage ging ich mit meinem aufblasbaren Plastik-Flamingo Richtung Marie-Juchacz-Park, der einzigen größeren Grünfläche, die relativ zentral in St. Leonhard liegt. Meine harmlose Frage an die Frauen, die mir begegneten, war: Wenn wir mal rumspinnen – wo im Viertel würden Flamingos landen? Wo kann man sich wohlfühlen? Welche Farbe steht für dein Lebensgefühl im Viertel?
Das sind die Antworten der Frauen:

Ilayda (22) treffe ich auf dem Weg zum Marie-Juchacz-Park auf dem Leonhardsplatz: „Die Flamingos würden wohl in den Westpark fliegen, aber dafür müsste es wärmer sein. In St.Leonhard gibt es zu viel Müll und kaputte Flaschen auf den Straßen, auch das würde den Flamingos nicht gefallen. Der ganze Stadtteil ist für mich grau und schwer, es müsste mehr Flamingopink dazu kommen. Für Frauen ist es nicht schön, hier zu leben. Ich gehe manchmal gar nicht mehr gerne raus, weil es zu viele Männer gibt, die einen anmachen. ,Hey, gib mal deine Nummer, warum nicht, komm doch, bleib mal stehen.‘ Das sind Sprüche, die ich immer wieder höre. Ich habe manchmal Angst vor diesen Typen. Ich fühle mich sicherer, wenn mich ein Mann aus meiner Familie begleitet. Ich mache gerade eine Ausbildung zur Groß- und Einzelhandelskauffrau und kann nicht viel für Miete ausgeben. Sobald ich mehr Geld verdiene, will ich aus St. Leonhard wegziehen. Als einzelne Person kann man nicht viel verändern, es wäre schön, wenn ich mich mehr mit anderen austauschen könnte, nicht nur mit Frauen.“

Lilith begegne ich auf dem Spielplatz im Marie-Juchacz-Park mit ihrem sechs Monate alten Sohn: „Für mich ist St. Leonhard so beigebraun wie viele Wohnhäuser hier oder dunkelblau-grau. Kein toller Landeplatz für Flamingos. Im Stadtteil sind viele Männergruppen unterwegs, die rufen einem hinterher, folgen einem, geben keine Ruhe. Ich mache mir Sorgen, wie das für meinen Sohn sein wird, wenn er älter ist und mitbekommt, dass seine Mama sich unwohl fühlt und Angst vor diesen Männern hat. Ich studiere Design, bevor ich nach Nürnberg kam, lebte ich in Leipzig. Da war es besser, da konnte ich auch nachts durch einen Park gehen und es war kein Problem. Vielleicht ist die feministische Szene dort stärker und lauter als in Nürnberg. Hier im Viertel fehlt ein nettes Café, wo man sich treffen kann. In der Schweinauer Straße hat eines geschlossen und ich hätte mir gewünscht, dass sich ein Nachfolger findet. Leider wurde das nichts und dort hat ein Friseur eröffnet. Schade. Ich sehe samstags oft Frauen in der Schnellbäckerei an der U-Bahnstation St. Leonhard beim Kaffeekränzchen sitzen. Das finde ich schön. Die Schweinauer Straße ist schon lieb, es gibt eine Eisdiele, es könnte eine nette Fußgängerzone sein, aber es ist einfach zu laut dort und wie gesagt, Männer sind ein großes Problem.“

Zwei Freundinnen, die eine ist zehn, die andere zwölf Jahre alt, kommen in den Park: „Die Flamingos würden bei den neu gebauten Häusern hinter der Leonhardstraße landen. Wir sind gerne hier im Park, alle unsere Freundinnen kommen her, es gibt einen Spielplatz, es ist grün und leise. In der Schweinauer Straße bei der U-Bahn sind abends und nachts oft Betrunkene, die sind laut. Manchmal knallt es wie eine Bombe, wenn sie extra auf einen Tetrapack drauftreten. Dann erschreckt man sich ganz schön, wenn man im Bett liegt und schlafen will. Mädchen und Jungs wachsen eigentlich gleich auf, bis auf den Stimmbruch und Jungs verhalten sich anders, sie beleidigen andere mehr.“

Laura (29, Lehrerin) und Julia (28) spazieren durch den Park: „St.Leonhard ist im Hintergrund grau und darauf sind viele bunte Punkte. Die stehen für die Vielfalt und die unterschiedlichen Nationen, die hier wohnen. Uns gefällt der Stadtteil und unsere täglichen Wege, zum Beispiel entlang der Rothenburger Straße bis zur Schule, sind gut ausgeleuchtet. Das gibt ein sicheres Gefühl.“

Eine junge Frau spreche ich in der Kreutzerstraße an, sie wohnt in einem der älteren Häuser hier: „Flamingos würden sich in St.Leonhard nicht wohl fühlen. Hier gibt es kein Wasser und schmutzig und grau ist es auch. Ich bin vor fünf Jahren mit meiner Familie hergezogen. Seitdem sind viele Männer ins Viertel gekommen, die mir Angst machen. Nicht alle sind so, aber mittlerweile fühle ich mich unwohl, sobald ein Mann nur hinter mir her geht. Ich habe mir einen Hund angeschafft, um mich sicherer zu fühlen, das war eine schnell umsetzbare Lösung. Aber es hilft natürlich nicht wirklich, deshalb bin ich froh, dass ich jetzt an die Hohe Marter umziehe. Da ist es hoffentlich besser als hier.“

Emely (22) wohnt nicht in St. Leonhard, aber ihre Mutter hat einen Laden hier und sie besucht sie dort regelmäßig: „Wenn ich in der U-Bahn von Männern angesprochen werde und nicht darauf reagiere, wurde ich schon als ,Schlampe‘ bezeichnet. Ich fahre deshalb nur noch mit dem Auto nach St. Leonhard. Aber selbst dann werde ich belästigt, wenn ich aussteige. Männer wollen meine Telefonnummer, hören nicht auf, mir hinterher zu gehen, mich zu bedrängen. Das ist schrecklich. Ich möchte anziehen können, was ich will, ohne dass Männer meinen, dass sie mich so behandeln können. Meiner Schwester hat mal ein Mann in der U-Bahn einfach in ihre Haare gefasst. Sie war so geschockt, dass sie sich danach die Haare kurz schneiden ließ. Meine Mutter traut sich nur noch in ihrem Laden zu arbeiten, wenn sie unseren Hund dabei hat. Die Männergruppen in der Schweinauer Straße machen ihr Angst und sie belästigen ihre Kundinnen. Wie lange sie den Laden noch behält, weiß sie im Moment nicht.“
Die amerikanische Professorin für Geografie und Ökologie, Leslie Kern, beschreibt die Tatsache, dass es für Frauen zusätzlich zum Verzeichnis der Straßen und Plätze einer Stadt immer auch persönliche, mentale Karten der Angst gibt, als eine immense Herausforderung. Es koste Frauen sehr viel Energie, ständig ihre Sicherheit im öffentlichen Raum zu organisieren, sich Wege zu überlegen und sich vor möglichen Attacken in Acht zu nehmen, schreibt sie in ihrem auch auf Deutsch erschienen Buch „Feminist City“. Sich nach diesen „Karten der Angst“ zu richten, habe soziale, psychische und wirtschaftliche Folgen für Frauen.
Ständig überlegen, welche Wege sicher sind
In Vierteln wie St. Leonhard in Nürnberg, in denen Frauen offensichtlich – natürlich kann meine Umfrage ein Zufallsergebnis erbracht haben, aber ich gehe nicht davon aus – häufig belästigt werden, ist der Aufwand an Kraft und Zeit, den sie dafür aufbringen, um möglichst sichere und angenehme Wege durch den öffentlichen Raum zu finden, besonders hoch. Und immer wieder finden sie keine, weil Männer zu präsent sind.
„Sozial verstärkte Angst führt dazu, dass wir die Stadt nicht vollständig als unsere begreifen“, sagt Leslie Kern. Frauen fühlen sich fremd in ihrem Viertel, sie wollen möglichst bald wegziehen. Sie schämen sich sogar für die Belästigungen – so wie Lilith vor ihrem kleinen Sohn.
Frauen zahlen für günstige Wohnungen einen hohen Preis
In St. Leonhard leben viele alleinerziehende Mütter, sie bezahlen den erschwinglichen Wohnraum im Viertel mit einem unguten Gefühlsgemisch aus Unsicherheit und Angst vor Männern, die den Straßenraum für sich einnehmen. Wenn nicht gehandelt wird, kann es sein, dass Frauen aus Vierteln mit bezahlbaren Wohnungen verdrängt werden. Aber was dann?
Die deutsche Historikerin Hedwig Richter deutet Geschichte auch als Körpergeschichte. Für sie steht fest: „Ein Mensch, der seinen Körper nicht besitzt, kann nicht als Bürger gedacht werden, der zur Selbstregierung fähig ist.“ Sie zeigt dies am Frauenbild im 19. Jahrhundert. Es gab damals zwei getrennte Sphären – die öffentliche für die Männer, die private für die Frauen. Sicher vor Übergriffen waren Frauen nirgendwo.
Wer seinen Körper nicht besitzt, wird nicht als selbstbestimmte Bürgerin gedacht
Das Bild eines* selbstbestimmten Bürgers*, der* wählt und seine* Stimme in der Öffentlichkeit erhebt, geht für Hedwig Richter nicht zusammen „mit einem Menschen, der noch nicht einmal die Hoheit über seinen Körper hat.“ Ich zitiere übrigens aus einem Interview mit der Historikerin, das 2021 im Magazin „umrisse“ der Kulturstiftung des Bundes erschien.
Was bedeutet es für Frauen als Bürgerinnen, immer wieder zu erfahren, dass ihr Körper keineswegs unantastbar ist? Von den übergriffigen Männern werden sie ganz sicher nicht als selbstbestimmte Bürgerinnen gesehen, aber was ist mit den Politiker*innen und Entscheider*innen in den Verwaltungen, von denen viele als „schwierig“ geltende Viertel wie St. Leonhard meiden und sich dort kaum blicken lassen?
Was können wir tun, um die Lage in St. Leonhard zu verbessern?
Es ist längst höchste Zeit, Frauen die Hoheit über ihre Körper zurückzugeben. Was ist konkret in St.Leonhard zu tun? Darüber gilt es jetzt nachzudenken. Wer Ideen hat, kann sich gerne schreiben an info@flamingo-und-dosenbier.de