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Renate Ellmenreich unterstützt seit acht Jahren ein Witwendorf in Nigeria. Rhoda ist eine gute Freundin geworden.

Ute Möller
28.10.2022
Lesezeit: 8 Min.

„Ich bin auch in Afrika eine Witwe geworden“

Theologin Renate Ellmenreich hilft alleinstehenden Frauen in Nigeria, deren Männer von Terroristen der islamistischen Gruppierung Boko Haram ermordet wurden - Ihr Verein braucht dringend Spenden, um für Witwen Wohnungen bauen zu können

Bevor ich mich mit Renate Ellmenreich treffe, gebe ich ihren Namen bei Firefox ein. Ich weiß nichts über die Pfarrerin im Ruhestand, die erst seit kurzem in Nürnberg lebt. Sie ist mir von einer Bekannten als Interviewpartnerin empfohlen worden, weil sie ein Witwendorf in Nigeria mitaufgebaut hat. Renates Verein bekommt seit einigen Wochen keine Spenden mehr, ich will helfen, das zu ändern.

Völlig unerwartet stoße ich im Internet auf ein widerständiges und mutiges Frauenleben, das 1950 in der DDR begann. Renate studierte Theologie in Berlin, arbeitete ab 1974 als Berufsanfängerin in Jena. Dort engagierte sie sich auch in oppositionellen Gruppen und Lesekreisen, immer wieder wurde sie verhaftet. Als der Druck der Staatssicherheit zu groß wurde, nahm sie die angebotene „Umsiedlung“ an. Das war 1980.

Sie arbeitete als Pfarrerin in Frankfurt am Main, ihre erste Stelle war im Frauengefängnis. Der Vater ihrer Tochter, der Widerstandskämpfer Matthias Domaschk, blieb im Osten. Ein Jahr später kam er unter ungeklärten Umständen in der Stasi-Untersuchungshaft ums Leben. Renate versuchte fortan, unter anderem zusammen mit Amnesty International, den Tod aufzuklären.

Nach sechs Jahren bei der Gauck-Behörde ging sie nach Nigeria

1993 ging sie zur Gauck-Behörde nach Gera. Sechs Jahre lang bereitete sie Akten auf. Bis sie genug hatte von Aufklärung und persönlicher Verarbeitung. „Mir war ganz schlecht, mir hat es bis über den Kopf gestanden. Es ging einfach nicht mehr, ich brauchte einen Tapetenwechsel und wollte weg von der Vergangenheit und an die Zukunft denken.“

Genau zu diesem Zeitpunkt ergab sich die Möglichkeit, mit ihrem Mann, ebenfalls ein Theologe, nach Afrika zu gehen, in den Norden Nigerias. Und an diesem Zeitpunkt in ihrem Leben beginnt unser Gespräch. All meine Fragen zum Frauenleben Ost – West hebe ich mir für ein anderes Treffen auf. Renate kämpft gerade für den Bau eines Wohnhauses für Witwen in Nigeria. Das Geld wird knapp, weil Spenden ausbleiben. „Wir haben schon so viel erreicht für die Frauen, wenn einige von ihnen jetzt noch eine eigene kleine Wohnung bekommen könnten, wäre das ein so wichtiger Schritt.“ Davon will sie erzählen.

Renate ging also 1999 mit ihrem Mann in den Norden Nigerias und baute für eine der einheimischen Kirchen ein Alphabetisierungsprogramm für Landfrauen auf. Als das lief, gründete sie Grundschulen. Die staatlichen Schulen fielen wegen des zunehmenden Terrors der islamistischen Gruppierung Boko Haram immer mehr aus und im Nordosten Nigerias unterrichteten nur noch die Koranschulen. Renate erlebte die Folgen der Gründung der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram mit, die seit Beginn der 2000er Jahre ihren blutigen Feldzug durch das Land unternimmt. „Viele kleine Orten wollten aber die Bildung ihrer Kinder selber organisieren und ich habe mit ihnen zusammen überlegt, wie das gehen kann.“

Renate Ellmenreich besuchte mich im neuen Hauptquartier von Flamingo und Dosenbier.

Fünf Jahre arbeitete Renate in Nigeria, dann starb überraschend ihr Mann, unterwegs mitten in der Wüste. „Und dann war ich auch plötzlich Witwe und es war schwer, in Nigeria zu bleiben. Denn Witwen sind dort ohne jede Lobby und ohne Rechte. Sie sind die Letzten in der Gesellschaft.“ Traditionell wurden Witwen wieder verheiratet an den nächsten Bruder ihres verstorbenen Mannes, damit sie und die Kinder versorgt sind. Aber das funktioniere heute zum Glück nicht mehr.

Renate ging also 2004 zurück nach Deutschland und verbrachte die letzten zehn Arbeitsjahre in einer Gemeinde in Mainz. Doch der Kontakt nach Nigeria riss nie ab.

Was auch mit einem Anruf zusammenhängt, der sie 2014 erreichte. „Ich saß abends mit anderen Pfarrerinnen in Mainz bei einem Glas Wein zusammen, da rief mich meine Bekannte Rebecca aus der Provinzhauptstadt Maiduguri im Nordosten Nigerias an. Sie schrie ins Telefon, im Hintergrund hörten wir Kampfhubschrauber. Sie rief mich mitten in einem Angriff der Terroristen an und bat verzweifelt um Hilfe.“

Es sei entsetzlich gewesen, ihre Kolleginnen waren so erschüttert, dass sie mit Renate den Verein Widows Care gründeten, um den Frauen in Nigeria zu helfen.

Die Frauen müssen zusehen, wie ihre Männer ermordet werden

Ihre eigene Motivation sei ganz einfach zu erklären, sagt Renate. Als sich die Frauen in Maiduguri das erste Mal versammelten, um sie um Hilfe zu bitten, sei ein Satz gefallen, „hinter den kann ich einfach nicht zurück.“ Die Witwen sagten zu ihr: Du bist doch auch eine Witwe in Afrika geworden, du weißt doch, wie das ist. „Ja, ich weiß, wie das ist.“

Sie riet den Frauen, sich zu organisieren. 2920 Frauen gehören mittlerweile zu der Witwenvereinigung Maiduguri. Sie verteilen mit Hilfe der Spenden aus Deutschland Lebensmittel an die Frauen in den Flüchtlingscamps. Waisenkindern zahlen sie das Schulgeld.

„Boko Haram überfallt Dörfer, tötet die Männer und die Frauen, die nicht fliehen können, werden mitgenommen. Sie brauchen sie für den Haushalt und für die Nacht und die Kinder werden ausgebildet zu Kämpfern.“

Oft zwingen die Terroristen die Frauen und auch die Kinder, zuzugucken, wie der Mann umgebracht wird. „Und zwar nicht mit einer Kugel, das wäre viel zu teuer, sondern mit der Machete.“

Die Kinder sind traumatisiert, sie schreien nachts. Die Witwen versuchen sich nach Maiduguri durchzuschlagen, denn um die Stadt gebe es einen Militärgürtel, der sie einigermaßen sicher mache. „Dort gehen sie zunächst in ihre Kirche, in Maiduguri sind es elf verschiedene. Die meisten kommen mit zerrissener Kleidung, viele sind vergewaltigt worden.“ Die Frauen werden zunächst medizinisch versorgt. Und dann folgt die Suche nach einer Unterkunft für die ebenfalls schwer traumatisierten Witwen, die anfangs oft einfach verstummen, sagt Renate. Trösten könnten sie sich nur gegenseitig, „nur sie wissen und verstehen tatsächlich, was jeder von ihnen geschehen ist.“

Renate bewundert Rhodas Mut, immer wieder Neues zu probieren. Sie züchtete Puten und Hasen, jetzt strickt sie im Witwendorf auch noch Babykleidung, um Geld zu verdienen

Rund 100 Kilometer von Maiduguri entfernt, in der Nähe der Hauptstadt Abuja, hat die Witwenorganisation ein Dorf für die Frauen gebaut. Dort können sie Alphabetisierungskurse besuchen. Ihr eigenes Geld verdienen. „Uns ist es ganz wichtig, den Frauen zu ermöglichen, auf eigenen Beinen zu stehen. Traditionell geht das nicht, alleinstehende Frauen können in Nigeria nicht ökonomisch aktiv sein. Auch die Witwen haben mich immer gefragt, wer sie denn anstellen solle, und ich habe ihnen gesagt, dass sie jetzt selbständig sind. Unsere Aufgabe war es jahrelang, den Frauen zu predigen, dass sie ihr eigenes Geld verdienen und selber entscheiden dürfen, wofür sie es ausgebt.“

Viele Frauen wollen nicht in eines der großen Flüchtlingslager der Hilfsorganisationen. Aus guten Gründen. In den Camps gebe es ein Zelt pro Familie, alle müssen sich in die Warteschlange stellen. Doch wenn sie an der Reihe sind, rufen die einheimischen Mitarbeiter in den Camps nur die Familienvorstände auf, „und das sind Witwen nicht.“ Viele Frauen hätten die Lager wieder verlassen, auch weil sie von Männern bedrängt wurden. Oder sich verkaufen mussten, um ein Zelt für sich und ihre Kinder zu erhalten.

Witwen steht in Nigeria kein eigenes Zimmer zu

Einige Witwen kommen bei anderen Flüchtlingen aus ihrem Dorf unter, die eine Wohnung ergattern konnten. „Aber das Traurige ist, dass die Witwen draußen schlafen müssen, auf Matten im Hof. Denn die Volksmeinung ist, dass eine Frau ohne Mann kein eigenes Bett und kein eigenes Zimmer braucht.“ Im Witwendorf standen von Anfang an einfache Hütten mit Türen, die jede Frau hinter sich zumachen konnte. „Das war für viele sehr, sehr wichtig.“

Was fast unmöglich erschien, ist der Witwenorganisation in diesem Jahr gelungen: Sie fand in Maiduguri ein Baugrundstück, einen halben Hektar groß und mit 7000 Euro bezahlbar. Im Sommer war Baubeginn für elf Wohnhäuser mit 22 Wohnungen und acht Läden. Renate war beim ersten Spatenstich dabei. „Auf dem Grundstück wurde sogar Wasser gefunden, jede kleine Zweizimmerwohnung wird einen eigenen Wasserhahn bekommen, das ist etwas ganz Besonderes.“

Der Bauleiter habe sich bereit erklärt, mit dem Bau immer wieder zu warten, bis neues Geld reinkommt. Nötig sind am Ende 200 000 Euro. Ohne Spenden aus Deutschland ist das Projekt nicht zu stemmen, „aber wir bekommen seit Wochen keine Spenden mehr, das war noch nie seit Bestehen von Widows Care e.V. der Fall“, sagt Renate.

In Maiduguri finden Frauen kaum Arbeit

Dabei seien die Wohnhäuser in Maiduguri so wichtig. Denn während die Frauen im Witwendorf in der Nähe der etwas aufgeklärteren Hauptstadt Ajuba ihre selbst produzierten Waren ganz gut verkaufen können, sei das Leben in Maiduguri für die Frauen komplizierter. „Imame predigen, dass Männer nicht bei christlichen Frauen auf der Straße Essen kaufen sollen, weil die etwas untermischen würden, um sie impotent zu machen.“

Einige Frauen hätten zwar mittlerweile Arbeit gefunden, zum Beispiel habe die Stadtregierung Witwen angestellt, um die Straße zu fegen. „Aber das Geld, das sie dafür bekommen, reicht gerade mal für ein oder zwei Kilo Reis. Damit können sie nicht einen ganzen Monat überleben.“  In den Flüchtlingscamps seien die Frauen zum Nichtstun verdammt. „Wenn keine Lebensmittel geliefert werden, hungern sie. Als ich beim vorletzten Mal da war, hatte jede von einer großen deutschen Hilfsorganisation ein Fläschchen Öl und Reis bekommen,  aber sie konnten nicht kochen, weil es kein Feuerholz gab.“

Die Witwen produzieren Fischfutter, züchten Hasen, verkaufen Eier

Viele der Frauen sind Analphabetinnen, Bäuerinnen, haben keine Ausbildung. „Im Witwendorf haben wir am Anfang mit dem Nähen begonnen, dann hatten die Frauen die Idee, Fische zu züchten und  wir haben Teiche gegraben. Die Fischzucht war aber nicht so erfolgreich.“ Die Witwen züchten Hühner, Puten, Hasen. Sie verkaufen auf Märkten Fleisch und Eier, Öl und Gesichtscremes, die sie auf dem Feuer kochen.

Nach acht Jahren funktioniere das Witwendorf endlich gut, sagt Renate. Dank deutscher Spenden. Die Frauen verwalten das Dorf interreligiös, „Christinnen und Muslima zusammen, um zu zeigen, dass das auch in Nigeria möglich ist.“ Die Frauen des Witwendorfes kochen für alle 300 Schulkinder des benachbarten Flüchtlingscamps. „Sie verwalten sich selbst und das demokratisch.“

Ein besonderes Verhältnis verbindet Renate mit Rhoda. „Ihr Mann war Polizist in einer Kleinstadt und ist als Erster von Boko Haram umgebracht worden. Rhodas Tochter und ihr Schwiegersohn wurden ebenfalls von den Terroristen ermordet, sie nahm das Enkelkind zu sich, hatte aber selber auch noch vier kleinere Kinder.“ Rhoda litt unter einer Depression, als sie ins Witwendorf kam, wie die meisten Frauen. „Aber sie fing nach ungefähr einem Jahr an, sich umzuschauen und zu gucken, was sie arbeiten kann.“

„Es wächst eine neue Generation heran, es verändert sich etwas für die Frauen“

Renate, die zwei bis drei Mal im Jahr nach Nigeria reist, bietet für die Witwen Workshops an, in denen sie herausfinden können, was sie gerne tun möchten. „Rhoda hat sich erst mal mit Puten und dann mit Hasen beschäftigt, mit dem Geld aus dem Verkauf kann sie die alltäglichen Sachen zahlen, aber für das Schulgeld reicht es nicht. Deshalb hat sie noch nach einer anderen Einnahmequelle gesucht und kam auf die Idee zu stricken.“

Das Witwendorf bekam zwei Strickmaschinen geschenkt und Rhoda produziert zusammen mit einer anderen Frau Strampelanzüge für Babys. Renate steuerte die Wolle bei, damit Rhoda ihr Geschäft starten konnte. „Jetzt bauen sich die Frauen einen Markt auf.“ Um noch besser verkaufen zu können, lernen sie auf Initiative von Rhoda jedes Mal, wenn Renate das Witwendorf besucht, mit ihr Englisch.

„Ich finde Rhodas Weg absolut bewundernswert, sie hat nie aufgegeben, auch weil sie ihren Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen wollte.“ Ihr ältester Sohn studiere mittlerweile Tiermedizin und arbeite nebenbei in einer Bäckerei.

„Die Kinder sind stolz auf ihre Mütter“

Die Kinder im Camp werden langsam erwachsen, „die meisten haben wir durch das Abitur gebracht“, sagt Renate stolz. Doch Arbeit oder einen Ausbildungsplatz zu finden sei extrem schwer. „Dabei bräuchten wir zum Beispiel dringend Fahrradflicker und Handwerker, die unsere Nähmaschinen reparieren. Oder Elektriker, die unsere Solaranlagen im Witwendorf reparieren können.“

Viele Jugendliche hängen stattdessen nach der Schule durch und einige Mädchen seien schon wieder auf dem Weg zu heiraten, bedauert Renate. Sie wünschte sich, dass die 18-Jährigen erst einmal einen Beruf lernen und ein eigenständiges Leben führen. „Doch bei allen Problemen – da wächst eine neue Generation heran.“ Rhodas ältester Sohn schrieb Renate, dass er stolz sei auf das, was seine Mum erreicht hat. „Das zeigt mir, dass sich wirklich etwas verändert für die Frauen in Nigeria“, sagt Renate. Ihr Verein, ihre Arbeit und ihre Leidenschaft für das Land haben daran jedenfalls einen Anteil.

Spenden für den Verein Widows Care e.V.

Wer die Arbeit des Vereins Widows Care e.V. unterstützen möchte, kann spenden. Das Geld fließt zu hundert Prozent in die Projekte in Nigeria, verspricht Renate Ellmenreich. Aktuell wird dringend Geld benötigt für den Neubau von 22 Wohnungen für die Witwen und ihre Kinder in Maiduguri. Spendenkonto: Renate Ellmenreich - Widows Care e.V. IBAN DE435206 0410 0104 948866 BIC: GEN 0 DEF 1 EK 1