Foto: Dennis Schenk

Saskia Listle stieß selber an die "gläserne Decke". Seitdem geht sie los für Veränderungen.

Ute Möller
07.07.2021
Lesezeit: 5 Min.

„Ich beiße mich gerne durch, aber das war zu viel“

Saskia Listle berät Unternehmen und ist überzeugt: Digitalisierung bedeutet eine Chance für gendergerechtes Arbeiten, wir müssen sie aber auch nutzen

Ich muss zugeben: Ich beneide Saskia Listle ein wenig. Vor einem Jahr zog die Digitalisierungsexpertin von München nach Frankreich. Mit zwei anderen Gründerinnen lebt sie unweit des Atlantiks im Norden in ihrem „Startup-Haus“ und wuppt von dort ihre Herzensprojekte. Ich liebe Frankreich und kann mir selber gut vorstellen, dort in ein paar Jahren zu leben. Auch am Meer, klar.

Saskia Listle und ihre Mitbewohnerinnen basteln dort an Ideen für eine gerechtere Gesellschaft. Mit Mitbewohnerin Sharon, einer Verhaltensforscherin, macht sich Saskia auf die Suche nach Strategien, um die Digitalisierung zu einem Tool für mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit zu machen. „Wenn uns zwischendurch mal wieder zu sehr das Meer lockt und von der Arbeit ablenkt, setzen wir uns zusammen und achten gegenseitig darauf, dass die Arbeit erledigt wird“, lacht Saskia.

„Vor dem Umzug nach Frankreich hatte ich Respekt“

Respekt vor dem Umzug habe sie schon gehabt, „das war eine Kamikaze-Aktion. In der Pandemie wurde es zwar immer normaler, remote zu arbeiten, aber ich wusste ja nicht, ob meine deutschen Kunden mich weiterbeschäftigen.“ Die ersten Monate haben gezeigt – sie tun es!

Ich kenne die Unternehmerin Saskia Listle vom Nürnberger Digital Festival. Die Münchnerin war dort Referentin.  Ihre Themen sind die Digitalisierung und die Chancen digitaler Arbeitsprozesse für Unternehmen. Ich habe mich gefragt, wie sie es schafft, so dafür zu brennen. Ich will oft nur noch raus aus meiner Social Media-Bubble. Ständig will mir auf Instagram oder LinkedIn jemand erklären, dass die Digitalisierung besonders für Frauen viele Chancen bereithält. Die Debatte ist ein Selbstläufer weiblicher Selbstvergewisserung geworden, an dem einige ziemlich gut verdienen.

Wenn es Saskia Lisle, Coachin in Sachen Digitalisierung, zu sehr ans Meer lockt, motivieren sie ihre Mitbewohnerinnen manchmal zur Arbeit.  Foto: Danielle MacInnes on Unsplash
Wenn die Versuchung zu groß ist, im Meer zu baden statt zu arbeiten, motivieren sich Saskia und ihre Mitbewohnerinnen gegenseitig.
Foto: Danielle MacInnes/Unsplash

Ich frage also Saskia, die an der Fernuniversität Hagen Wirtschaft mit Schwerpunkt Wirtschaftsinformatik studiert hat und seit 2018 Firmen auf ihrem Weg in die Digitalisierung coacht, wie sie das Thema für sich entdeckt hat.

Es stellt sich heraus, dass sie wie so viele Frauen nach dem Studium direkt mal Platz nahm im Business-Autoscooter. Da war nix mit Gurt und fairem Fahrstil – Männer schnitten ihr rüde den Weg ab.

„Immer wieder habe ich es erleben müssen, dass ich in Meetings nicht wahrgenommen wurde. Mir wurde auch immer wieder gespiegelt, dass meine Ideen nicht gut genug seien. Dazu kam, dass ich bis vor ungefähr vier Jahren dachte, das Thema Frauen in Führung sei abgehakt. Es gab ja immer mehr Chefinnen, die sich bewiesen hatten.“ Was sie zunächst zu der quälenden Frage geführt habe, ob es an ihr liegt, dass sie es nicht schafft. Ob sie also vielleicht tatsächlich nicht gut genug ist.

Der Autoscooter wurde immer wilder. Die Münchnerin erhielt eine Beförderung zur Vertriebsleiterin, „die Stelle wurde extra für mich geschaffen.“ Doch das änderte nichts daran, dass ihre Vorschläge weiterhin unter den Tisch fielen und sie ständig überlegen musste, wie sie Themen platzieren kann. „Ich beiße mich gerne durch, der Weg des geringsten Widerstands ist nicht meiner, aber das war zu viel.“

Sich selbständig zu machen, sei für sie dann ein total egoistischer Schritt gewesen. „Ich hatte keinen Bock mehr, mich mit anderen zu arrangieren. Und wenn jetzt etwas schief geht, liegt es tatsächlich an mir.“ Saskia sagt es an einer anderen Stelle in unserem Gespräch noch drastischer. „Lasst uns das Patriarchat und den Kapitalismus niederbrennen. Ich werde immer mehr zu der Feministin und Kapitalismuskritikerin, als die ich mich früher niemals selber gesehen hätte.“

„Liebsein macht nichts besser“

Lange tat sie sich damit schwer, sich als Feministin zu bezeichnen. „Ich habe daran herum geknabbert und dachte: Ach wirklich, schon wieder die Nächste und die bin ich jetzt auch noch selbst? Bis mir klar wurde, dass mit Liebsein und Anpassung nichts besser wird.“

Für Saskia steht hinter Feminismus die Überzeugung, dass alle Menschen von vorneherein die gleichen Chancen haben sollten, sich das Leben zu bauen, das sie gerne hätten. Im Moment gehe es um Geschlechtergerechtigkeit, aber eine statische Sache sei das nicht. „Wir sind nicht gekommen, um zu bleiben. Wir müssen immer mehr Gruppen von Menschen einbeziehen.“

Raus aus dem Autoscooter

Sie stieg aus dem Autoscooter aus und erklärt jetzt Unternehmen, dass Teams mit Mitarbeitenden aus unterschiedlichen Kulturen, Gesellschaftsschichten und Altersgruppen, mit diversen Erfahrungen und unterschiedlichen Geschlechts, kreativer und erfolgreicher arbeiten.

Mit der Digitalisierung sei es wie mit dem Brotmesser – jeder kennt den Vergleich: Damit kann man ein Brot teilen oder jemandem in den Bauch stechen. Die Digitalisierung habe das Potential, eine gerechtere Welt zu schaffen, etwa mit Zugang zu Bildung für viele und der Chance, seine Ideen mit sieben Milliarden Menschen zu teilen. Für Saskia ist die fortschreitende Technologisierung Chance und Pflicht, neue Wege der Zusammenarbeit und der Unternehmenskultur zu finden. Dazu gehöre, dass Führung keine Frage des Geschlechts mehr sein darf.

„Wir müssen ran an die Strukturen“

Ob die Digitalisierung diese Effekte entfalten kann, liege daran, wie wir sie nutzen. „Die technologische Seite lässt sich nicht von der gesellschaftlichen Debatte trennen. Wir müssen ran an die Strukturen.“  Dann profitieren alle – Frauen wie Männer – von Vernetzung, flexiblen Arbeitszeitmodellen und digitaler Kommunikation.  

Ein Blickwinkel auf ein Problem reicht ohnehin nicht mehr, die Zeiten sind rum. Wer’s nicht wahrhaben will, dem sollte doch mit dem Umsatzargument beizukommen sein. In Firmen, in denen jeder Angestellte gesehen und gefördert wird, in denen jeder grundsätzlich die Chance auf Beförderung hat, arbeiten zufriedene und motivierte Menschen. Die Umsätze dieser Unternehmen steigen. Und sie gewinnen als attraktive Arbeitgeber die heiß begehrten Fachkräfte.

Unternehmensberaterin Saskia Listle coacht Firmen zum Thema Digitalisierung
Saskia Listle, Coachin und Gründerin, war so frei und hat sich für uns mit einem Dosenbier fotografiert.

„Aber mal ehrlich: Die alten weiße Männer haben selber nicht erlebt, dass Diversity erfolgreicher ist, es ging ja bisher auch so. In der Diskussion bekommen sie außerdem vermittelt, dass sie ein bisschen überflüssig sind. Da ist es schwer, ihnen nahe zu bringen, was sie persönlich vom Changemanagement haben sollen. Es geht immer um Macht und die ist für viele Teil ihrer Identität, das geht über das Berufliche hinaus. Deshalb ist Machtverlust allein mit Geld nicht auszugleichen.“

Nachteile für Frauen

Statistisch ist es so, dass durch die Digitalisierung häufiger die Arbeitsplätze von Frauen als von Männern bedroht sind. „Und Jobs mit einem hohen Grad an Technologisierung und der Möglichkeit, Digitalisierung weiterzuentwickeln, haben im Moment eben oft Männer und nicht Frauen.“

Die Münchnerin, die gerne in den Grenzen von Patriarchat und Kapitalismus „spielt“, um die bekannten Muster löchrig zu machen und neue Spielräume auch in Richtung nachhaltigem Wirtschaften zu schaffen, will die Debatte mitgestalten. Aktuell hat sie ihr eigenes Online-Magazin The Grey Area gestartet. Darin geht es eben genau um die Frage, wie wir Digitalisierung für Chancengleichheit nutzen können.

„Wer seine Meinung teilt, ist ein kleiner Held“

Schreiben ist für sie, ergänzend zum Coaching, ein guter Weg, um wirksam zu werden. „Wir sind ja alle zu Sendern geworden in den sozialen Medien. Jeder, der seine Meinung teilt, ist für mich ein kleiner Held.  Denn ich kann mir beim Lesen überlegen, ob ich zustimme oder wo Löcher in der Logik sind.“

Wenn Saskia morgens in ihrem Haus in Frankreich in den Tag startet, sind ihre zentralen Fragen ans Leben auch wieder da: „Wie weit kann und will ich persönlich für meine Vision gehen? Wie weit kann ich mit meinen Ideen wirken?“

Erkenntnis durch Lektüre ist für sie ein großer Gewinn. Kein Wunder, dass für sie die Basis jeder guten Entscheidung das Sammeln von Informationen ist. „Eine Entscheidung zu treffen ist dann immer noch mutig, wenn ich darauf vertraue, dass ich genug weiß.“ Genau das sei aber der im wahrsten Sinne des Wortes „entscheidende Moment“. „Wenn ich voller Vertrauen entscheide, wird mehr Energie frei für mein Herzensprojekt.“

Saskia Listle empfiehlt: Mareike Lüken

Flamingo Kopf

Wer soll unsere nächste Gesprächspartnerin sein? Saskia Listle empfiehlt uns Mareike Lüken. Die beiden haben sich online über einen Working Out Loud-Circle kennengelernt. Das war Anfang 2020. „Mareike ist eine sehr engagierte und ideenreiche Frau, die sehr gut im Netzwerken ist“, sagt Saskia Listle. Sie seien sich sofort sympathisch gewesen. 2019 stand Mareike Lüken auf der Liste der „100 Führungsfrauen in der Mobilitätsbranche“, sie arbeitet in Mönchengladbach als „Head of Marketing & Product Sales“ bei Scheidt & Bachmann. Dort sind Ticketing- und Payment-Technologie für den öffentlichen Verkehr ihr Thema. Bei Women in Mobility, einem Netzwerk für Frauen in der Mobilitätsbranche,  organisiert sie den Hub in der Region. Ich freue mich, dass Mareike Lüken demnächst auch in Flamingo und Dosenbier ihren Auftritt hat!