Foto: Tanja Elm

Dosenbier als Symbol für ehrliche Gespräche: Marius Müller (re.) und Nicolas Eichholz mit Herausgeberin Ute Möller vor ihrem Büro im Heizhaus.

Ute Möller
03.09.2021
Lesezeit: 7 Min.

Gründerinnen, startet durch!

Nico Eichholz und Marius Müller sind "Anders Gründen" und beraten in Nürnberg Social Entrepreneurs

Gründerinnen überlegen länger, planen länger, zweifeln häufig intensiver als Gründer an ihrer Geschäftsidee. Sie starten ihr Business oft im Nebenerwerb und kleiner. Als: Ja, genau – männliche Gründer. „Kann ich das wirklich?“ ist die Frage, die sich im Mindset von Frauen hartnäckig festbeißt. Wie – das ist das erste Bild, das dazu bei mir im Kopf aufploppt – eine Zecke. Nur saugt die Gründerinnen-Zecke nicht Blut, sondern Energie. Und Mut. Das ist ärgerlich. Und wir müssen dringend klären, warum das so ist.

„Unser Ziel muss es sein, dass Frauen gar nicht mehr darüber nachdenken, sondern selbstverständlich sagen: Natürlich starte ich mit meinem Business. Ist doch klar!“

Das sagen mir Nicolas Eichholz und Marius Müller gleich zu Beginn unseres Gesprächs. Sie beraten im Nürnberger Quelle-Heizhaus in der Wandererstraße Menschen, die anders gründen. Gemeinwohl orientiert, mit Rücksicht auf Ökologie und dem Bewusstsein dafür, dass auch die Work-Life-Balance stimmen sollte. „Anders Gründen“ gehört zum Nürnberger Institut für Soziale und Kulturelle Arbeit (ISKA). Stiftungen finanzieren die Arbeit von Nico und Marius. Wen sie nach einem Erstgespräch in ihre Beratungsfamilie aufnehmen, der bekommt zehn Coachingstunden kostenlos.

„Zehn-Jahres-Pläne funktionieren nicht mehr“

Ich besuche die zwei in ihrem Büro. Es ist wenige Quadratmeter groß, bietet hinter einem Rolltor Platz für einen Tisch, vier Stühle, ein Regal und einen kleinen Schreibtisch. Strom kommt aus einer langen Leitung, die ins Innere des Heizhauses führt. Was Nico und Marius bieten, passt bestens in die kreative Atmosphäre des Heizhauses. Social Start-ups müssen bei ihnen keinen Zehn-Jahres-Plan vorlegen. „die funktionieren in unserer Welt eh nicht mehr, ein Drei-Jahres-Horizont reicht“, sagt Nico.

Sie interessiert die Motivation, warum jemand gründen will. Und ich interessiere mich für ihre Arbeit, weil bei Social Start-ups der Anteil von Frauen in den Geschäftsführungen ungewöhnlich hoch ist. Er liegt bei 53 Prozent, während der Anteil der Start-up-Gründerinnen in Deutschland insgesamt bei nur knapp über 15 Prozent liegt.

Ich habe nachhaltige Gründerinnen für Flamingo und Dosenbier interviewt. Jessica Könnecke von Mit Ecken und Kanten oder Sophie Zepnik von hejhej-mats. Ihnen geht es nicht um schnelles Wachstum, sie messen ihren Erfolg nicht an rasch steigenden Umsatzzahlen, sondern daran, was ihre Produkte und Projekte gesellschaftlich bewirken. Und wie gut ihre Mitarbeitenden berufliches Engagement und Privatleben vereinbaren können. Sie sind für ihre Idee losgegangen und haben auf dem Weg gelernt, wie es funktioniert. Zu gründen, Geld aufzutreiben, eine solide Basis zu schaffen.

Verschwinden jetzt die Nachteile für Frauen?

Wenn Frauen bei nachhaltigen Gründungen an der Spitze stehen und Social Entrepreneurship einen immer stärkeren gesellschaftlichen Rückenwind bekommt – bedeutet das automatisch auch, dass die Gender bedingten Nachteile in der deutschen Gründungslandschaft endlich verschwinden?

Frauen bekommen derzeit weniger Risikokapital, sie setzen sich bei Pitches vor Geldgebern seltener durch. Doch dort werden Geschäftsideen ja auch vor allem nach Skalierbarkeit und Wachstum bewertet.

Es muss sich strukturell noch vieles verändern für eine Gründungslandschaft, in der sich nachhaltig denkende Gründerinnen ernst genommen fühlen. Das zeigen die Firmengeschichten von hejhej-mats und Mit Ecken und Kanten. Und davon sind auch Marius und Nico überzeugt. „Das Mindset der Gründungsberatenden muss sich ändern.“

Das Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland (SEND e.V.) bringt seit 2017 Akteure in der nachhaltigen Gründungslandschaft zusammen. Laut Nico hat SEND e.V. die Vision, dass bis 2030 das gemeinwohlorientierte Gründen zum Normalfall wird. Ohne gesellschaftlichen Wandel, weg vom Patriarchat und den eingeübten Normen wirtschaftlichen Handelns, ist das für Nico und Marius  aber nicht vorstellbar.

„Wir brauchen extreme Gegenentwürfe“

„Das Patriarchat ist gesellschaftlich ein extremer Zustand und es gibt Frauen, die radikale Ideen für Veränderungen verfolgen“, sagt Marius, „genau das brauchen wir aber, denn nur eine Gegenbewegung, die uns das andere Extrem aufzeigt, macht den Menschen klar, wie heftig das patriarchale System ist.“

Es gebe zwar Ansätze für Veränderungen, zum Beispiel die gesetzlich festgelegten Frauenquoten für Vorstände großer Unternehmen. Oder die steigende Zahl von diversen Teams im Investmentbanking. Doch es gehe sehr langsam voran.

Die beiden Gründungsberater sind selber keine Männer mit Ellenbogenmentalität. Sie haben eher sogar etwas Mitleid mit Männern, die für die Karriere im Hamsterrad verschwinden.  Oder mit dem Banker, der gar nicht motiviert ist, für einen kleinen Zwei-Personen Betrieb, der nur langsam wächst, sein Hirn anzuwerfen und über einen Kredit nachzudenken. „Dieser Banker wird durch seine Sozialisation eingeschränkt und das ist schade für ihn.“

Nico und Marius wollen die Gründerinnen und Gründer unterstützen, die bei ihrem Start-up das Gemeinwohl mitdenken. Ihre eigenen beruflichen Wege waren eines bestimmt nicht – geradlinig. Foto: Tanja Elm

So wie Frauen in ihrer Sozialisation die Möglichkeit haben sollten, die Haltung einzuüben, selbstbewusst und selbstverständlich zu gründen, sollten Männer andere Positionen als die des Patriarchats einzunehmen lernen. Sie sollten lernen, mehr in sich hinein zu hören und zu reflektieren, wie sie arbeiten und leben wollen.

„Es ist bei den Männern ein Generationen- und Sozialisationsproblem“, meint Marius. Wichtig sei es, dass Männer offen bleiben und den Jüngeren nicht im Weg stehen. Dass sie diesen zugestehen: Ja, da habt ihr einen guten Punkt gemacht. Auch wenn wir es bisher anders gesehen haben.

Die beiden fühlen sich als Teil einer Generation, die langsam umdenkt. Die zudem immer häufiger Führungsverantwortung übernimmt und deshalb neue Ideen auch umsetzen kann. „Die Generation der Andersdenkenden kommt langsam an“, glaubt Nico.

Anders Gründen berät derzeit zwei gemischte Start-ups, drei Einzelgründerinnen, einen Einzelgründer und größere Teams. Marius und Nico wünschen sich, dass eine Frau ihr Team verstärkt, um den Genderaspekt zu integrieren. Diversität sei nicht nur in Gründungsteams eine Stärke, sondern auch in der Beratung.

Mach‘ was Solides!

Die beiden Sozialökonomen sind verschlungene Wege gegangen, bis sie zu ihrem beruflichen Selbstverständnis gefunden haben. Nico wollte nach dem Abitur erst mal Geld verdienen und auch sein Vater fand: Mach‘ was Solides! Beim Stifthersteller Faber-Castell ließ sich Nico zum Industriekaufmann ausbilden.

Er erlebte Reibereien zwischen Abteilungen. Spürte die Ellenbogen. „Ich dachte mir immer wieder: Da läuft was nicht rund.“ Aber er hatte als Berufsanfänger nicht die Position, um etwas zu verändern. „Außerdem ging mir der Dresscode gegen den Strich. Ich will mich anziehen, wie ich möchte, und nicht hinter einer Fassade arbeiten.“ Nach eineinhalb Jahren kündigte Nico.

Und reiste durch Asien. In Kambodscha sah er, wie Menschen mit Lastwagen in die Vorstädte gebracht wurden, um in Werkshallen zu verschwinden und Waren für den Westen zu produzieren. Nico war entsetzt.

Der Gedanke an die furchtbaren Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie ließ ihn nicht mehr los. Als er nach seinem Studium der Sozialökonomie keinen Job fand, dachte er sich: „Wenn mich keiner will, dann mache ich eben selber was!“ Mit einer Freundin, die sich mit Siebdruck und nachhaltig produzierten Textilien beschäftigte, und deren Freund gründete er ein kleines Unternehmen.

Wenig Vorbereitung und viel Idealismus

„Wir starteten mit wenig Vorbereitungszeit und viel Idealismus.“ Sie probierten es mit Crowdfunding, um Geld für ihre selbst bedruckten Fair Trade-Shirts zu bekommen. „Das war 2014 noch neu.“ Sie verkauften ihre T-Shirts auf Märkten, hatten ein Atelier im Nürnberger Stadtteil St. Johannis. Betrieben einen Online-Shop. 

„Wir hatten vieles nicht durchdacht“, sagt Nico im Rückblick. Zum Beispiel, wie viel Lagerfläche sie für die T-Shirts brauchten. Die kleine Firma hatte Geldprobleme und Marius arbeitete damals bereits 15 Stunden beim ISKA, „irgendwann liefen unsere Klamotten immer mehr nebenbei“.

Vor dem großen Invest schreckten die Drei zurück, die Firma wurde aufgelöst. „Ich empfinde das aber nicht als Scheitern“, sagt Nico. „Es war eine wertvolle Zeit. Ich habe viele andere Gründerinnen und Gründer mit spannenden Geschichten kennengelernt. Mir ist klar geworden, wie man über die Arbeit gesellschaftlich wirken kann. Wirtschaft ist ein Hebel für gesellschaftliche Veränderung. Angeregt durch unsere T-Shirts haben sich damals Leute zum Beispiel zum ersten Mal mit dem Thema Faire Trade befasst.“

Nur keine 40 Stunden-Woche

Und er bekam eine klare Vorstellung davon, wie er nicht arbeiten möchte. Nicht Nine-to-five, nicht 40 Stunden die Woche. Eher 30 bis 35 und in einem für ihn gesunden Gleichgewicht zwischen Job und Privatleben. Ohne Hierarchien und möglichst frei. Dafür müsse man sich immer wieder Fragen wie diese anhören: „Kannst du nicht mehr arbeiten? Reicht das fürs Leben?“

So arbeiten zu wollen, dass fürs eigenen Gefühl – das man ja auch erst mal zulassen und spüren muss – genug Zeit für Familie und Hobbies bleibt, ist nicht einfach. Schnell geraten Männer wie Frauen durch gesellschaftliche Erwartungen unter Druck. Das Bild des männlichen Machers verstellt den Blick für mögliche Denkpausen und Wendepunkte im Leben. Beispiel Familienphase. „Wenn ein Paar ein Kind bekommt, beginnt ja auch für den Mann ein neuer Lebensabschnitt. Beide können doch an dieser Stelle überlegen, wie sie ihr Leben weiter gestalten wollen“, sagt Marius.

Er studierte Geotechnik, aber das war ihm zu technisch. Er stieg um auf Wirtschaftsingenieurwesen, aber auch das war nicht das Richtige. Weil er das Gefühl hatte, mit Menschen arbeiten zu wollen und sich auch bei ihm der Wunsch nach etwas Sicherem meldete, wurde er Banker. Auch das passte nicht.

Niemand will belächelt werden

Nach dem Sozialökonomie-Studium arbeitete Marius ab 2018 hauptamtlich bei der Viva con Agua Wasser GmbH. Diese schließt Lizenzverträge mit Produktherstellern ab, um mit den Einnahmen die Arbeit der Non-Profit-Organisation Viva con Agua zu unterstützen. Deren Ziel ist der freie Zugang zu Trinkwasser für Menschen auf der ganzen Welt.

Marius war nicht zufrieden, „ich sah intern Probleme“. Er habe miterlebt, dass es für einen Gründer sehr komplex sein kann, sich mit dem offen auseinanderzusetzen, was Mitarbeitende als Ideen reinbringen.

In dieser Zeit wuchs in ihm der Wunsch, ein Gründungszentrum nach seinen Vorstellungen aufzubauen. Als er Nico kennenlernte, fühlte es sich für beide schnell richtig an, sich für „Anders Gründen“ unter dem ISKA-Dach zusammen zu tun.

Erst einmal sind die beiden also angekommen. Der Mietvertrag für das Büro hinter dem Rolltor im Heizhaus  läuft bis Ende März 2022. Dann geht es um neue Fördermittel und darum, doch langsam zu wachsen. Marius und Nico wünschen sich einen Co-Working-Space, Büros für Gründerinnen und Gründer, einen offenen Raum für Austausch untereinander. Der könne die Beratung irgendwann vielleicht sogar ersetzen.

Als Nico gründete, hatte er das Gefühl, dass ihm in der Gründungsszene keiner helfen kann. Berater bei den Berufskammern hätten ihn und seine Mitgründer belächelt, „weil wir so unstrukturiert vorgingen“. Man brauche aber jemanden, der einen nicht belächelt, sondern beim Planen hilft.

Wer Interesse hat, bei „Anders Gründen“ anzudocken, kann sich auf der Homepage umsehen. Und mit Marius und Nico in Kontakt treten.