Foto: Dina Davidova

Übergriffe ankreiden, um den Betroffenen den öffentlichen Raum zurückzuerobern: Die "Catcalls of Nürnberg" machen das seit zwei Jahren.

Ute Möller
16.03.2022
Lesezeit: 7 Min.

„Geile Titten“: Wie sollte das ein Kompliment sein?

Die "Catcalls of Nürnberg" kreiden öffentlich an, wo Personen sexuell belästigt wurden. Dafür gibt es den Anerkennungspreis des städtischen Frauenpreises. Aber da geht doch noch mehr, oder?

Es ist nicht okay, wenn Männer meinen Körper beurteilen. Definitiv nicht. Ich saß vor kurzem in einer Sauna, es war Sonntag, ich wollte nur chillen. Ein Typ kam rein, startete Smalltalk. Ich war mal wieder zu nett, um das abzublocken. Dann: „Darf ich dir was sagen? Du hast schöne Füße. Darf ich die massieren?“ Ne, bestimmt nicht. Aber ich blieb freundlich und sitzen. Saß den Typen aus, bis er die Hitze nicht mehr aushielt und ging. Der Rest des Nachmittags sah so aus: Ich ging nur in die Saunakabine, in der er nicht saß. Er hatte mir den Freiraum genommen. Ich war sauer, auf mich. Weil ich mich wie mein eigenes Objekt fühlte, das ich mir nicht zurückgeholt hatte.

Anzügliche Sprüche, Hinterherpfeiffen, obszöne Witze, aufdringliche Blicke, übergriffiges Verhalten – Frauen kennen das, einige Männer auch. Vor allem queere Personen, die aus dem Raster der gesellschaftlichen Gendererwartungen fallen.

„Dein Arsch ist voll fett“

„Geile Titten“, „Dein Arsch ist voll fett, geh mal trainieren“: Wer sich das anhören muss, fühlt sich verdammt allein. Catcalling, also verbale sexuelle Belästigung, ist in Deutschland im Unterschied zu Frankreich, Spanien und Portugal keine Straftat. Die gesellschaftliche Debatte lässt die Betroffenen allein. Das muss sich ändern, fordern die „Catcalls of Nürnberg“. Und kreiden seit zwei Jahren verbale Belästigungen genau dort auf dem Pflaster an, wo sie stattgefunden haben.

Dina Davidova gründete die „Catcalls of Nürnberg“. Foto: privat

 „Die meisten Betroffenen sind erst mal sprachlos und ärgeren sich später, dass sie in der Situation nichts sagen konnten“, sagt Dina Davidova. Sie gründete 2019 die „Catcalls of Nürnberg“, zwölf Aktivistinnen und Aktivisten sind mittlerweile dabei. 

Sie schreiben mit bunter Kreide auf die Straße. „Er fasste mir an den Hintern und verfolgte mich.“ Zum Beispiel. Oder: „Er rief mir hinterher: Ey, dreh dich doch mal!“ Die „Catcalls of Nürnberg“ machen Fotos von jeder Ankreidung und posten sie auf Instagram unter dem Account catcallsofnue. Dort können Betroffene auch ihre Erlebnisse und die Tatorte melden. Über 2600 Followerinnen und Follower haben die Nürnbergerinnen. Schon 50 Fälle kreideten sie auf dem Pflaster an, 60 stehen noch aus.

„Das Thema kam zu mir über den Instagram Algorithmus“, erzählt Dina Davidova. Die Filterblase spülte ihr die Aktionen von Catcalls-Gruppen in anderen Städten in ihren Feed. Sie alle sind Teil der weltweiten Organisation „Chalk Back“ (chalk = engl. Kreide) die mit Kreideschriftzügen auf „street harassment“ (Belästigung auf offener Straße) aufmerksam macht.

Betroffenen wird der Raum genommen

Dina postete anfangs Aktionen aus New York, München oder Hannover. Dann, langsam, meldeten sich auf Instagram die ersten Betroffenen aus Nürnberg und erzählten. Von blöden Sprüchen mit Langzeitfolgen. Denn das sei ja das fatale, sagt Mitstreiterin Mirjam Klinger, „dass die Frauen danach Angst haben, im Dunkeln durch die Stadt zu gehen, sie meiden die Wege, auf denen sie belästigt wurden oder telefonieren, um sich sicherer zu fühlen.“ Ihnen wird der Raum genommen, die Freiheit, sich in der Öffentlichkeit unbelastet zu fühlen.

Ein Mädchen habe sich nicht mehr getraut, wie gewohnt mit dem Bus zur Arbeit zu fahren, nachdem ihr ein Mann immer wieder auf dem Weg in den Job nachgelaufen war. Kreiden die Aktivistinnen die Übergriffe an, sei das für die Betroffenen wie eine Rückeroberung. „Eine Frau sagte mir, nachdem sie die Kreideschrift gesehen hatte: Damit wurde mir der Ort zurückgegeben, er gehört jetzt wieder mir und nicht der Sache, die mir Angst gemacht hat“, sagt Dina.

Belästigungen – sogar beim Ankreiden. Foto: Catcalls of Nürnberg

Bei den „Catcalls of Nürnberg“ melden sich Personen wischen 12 und 50. „Wir fragen jede, wie es ihr oder ihm geht, ob sie oder er Ressourcen braucht“ sagt Dina. Bei Bedarf geben sie die Rufnummern des Frauennotrufs oder von Wildwasser, der Fachberatungsstelle für Mädchen und Frauen gegen sexuellen Missbrauch und sexualisierte Gewalt, weiter. Auf jeden Fall hören sie intensiv zu.

Niemand muss Belästigungen runterschlucken

Die #metoo-Debatte habe sexuelle Belästigungen endlich aus der Tabu-Ecke geholt, meint Mirjam. „Es ist mittlerweile das Bewusstsein stärker, dass es okay ist, sich belästigt zu fühlen“, dass es nichts gibt, was man runterschlucken muss, weil „so etwas“ Frauen nun mal passiert.

„Der Regen wäscht die Ankreidungen weg, das ist ein starkes Symbol“: Mirjam Klinger. Foto: privat

Dennoch sei es für Betroffene von Catcalling oft schwer, bei Freunden oder der Familie Verständnis dafür zu finden, wie sie sich fühlen. „Und sie haben auch eine Hürde genommen, wenn sie uns einschalten.“  Es sei krass, die Geschichten zu hören, „aber es ist ein gutes Gefühl, die sexuellen Übergriffe für die Frauen anzukreiden.“

Mit dem nächsten Regen ist die Schrift weg, sie bleibt nicht für immer. Die 27-jährige Studentin der Politikwissenschaft mag die Symbolik darin – der Regen spült die Ankreidung weg, dies nehme auch etwas die Last von den Betroffenen.

Belästigung beim Coronatest

Eine Frau wurde beim Coronatest belästigt: Als ihr der Mitarbeiter des Testzentrums das Stäbchen in den Mund steckte und sie „Bäh“ sagte, weil es sich so unangenehm anfühlte, ließ er den Spruch ab „Na, sagen Sie das zu Hause auch immer?“ Die Frau war sprachlos, erst nach ein paar Minuten fragte sie nach, wie das denn gemeint gewesen sei? Später beschwerte sie sich bei der Betreiberfirma des Testzentrums.

Bundesweit seien Catcalls-Aktivistinnen und Aktivisten dabei, einen Verein zu gründen, erzählt Dina. Eine bundesweite Arbeitsgemeinschaft erarbeite ein Konzept für Aufklärungsprojekte an Schulen. „Sensibilisierung ist wichtig, um etwas gesellschaftlich zu verändern.“

Die 22-Jährige studiert Medizin, lebt jetzt in Berlin, doch sie bleibt in Nürnberg aktiv. Beim Ankreiden in der Stadt kommen von Passanten die unterschiedlichsten Reaktionen. „Männer sind oft überrascht und sagen: Ach, das ist ein Problem? Sie dachten, dass ihre übergriffigen Sprüche von Frauen als Komplimente verstanden werden, das ist aber definitiv nicht so.“ Denn Komplimente werten nicht ab, sie sind nicht respektlos.

Frauen sagen im Vorbeigehen häufiger: Ja, das kenne ich auch. „Ältere Frauen meinen dann aber manchmal, dass die Mädchen heute zu sensibel seien. Sie selber hätten verbale Attacken früher einfach ignoriert“, sagt Dina.

Beim Ankreiden auf dem Nürnberger Hauptmarkt: Manchmal werden Betroffene immer wieder auf dem selben Weg, etwa dem zur Arbeit, belästigt. Foto: Dina Davidova

Doch sowohl die #metoo-Debatte, wie auch die Catcalls-Aktionen in vielen Städten weltweit, zeigen: Wir brauchen einen gesellschaftlichen Wandel, damit sich Opfer sexueller Übergriffe nicht länger allein und vielleicht sogar noch verantwortlich fühlen für die Attacken. Das Ankreiden, das Miteinandersprechen über obszöne Sprüche, Verletzungen und das miese Gefühl in der Situation und noch lange danach – all das soll im Idealfall zu einer neuen gesellschaftlichen Solidarität führen. Zu der Übereinkunft, dass niemand verbale sexuelle Übergriffe toleriert. Damit nicht die Einzelne alleine dagegenhalten muss, sondern den Tätern jederzeit klar ist, dass sie sich an den Rand des gesellschaftlichen Konsens stellen.

Hotspots für Catcalling

Besonders häufig waren die „Catcalls of Nürmberg“ im Burggraben gegenüber vom Hauptbahnhof im Einsatz. „Auf dem Weg zwischen Hauptbahnhof und Opernhaus passiert oft etwas und zwischen Färbertor und Plärrer auch.“

Am 17. März 2022 erhalten die „Catcalls of Nürnberg“ im Historischen Rathaussaal den Anerkennungspreis des städtischen Frauenpreises, dotiert mit 500 Euro. „Es ist schön, dass die Stadt agiert und den Anerkennungspreis neu geschaffen hat“, sagt Mirjam.

Doch die Aktivistinnen finden: Da geht noch mehr. Die Stadt Hannover zum Beispiel möchte verbale sexuelle Übergriffe als Ordnungswidrigkeit ahnden können und macht sich für entsprechende Änderungen stark, Dina schickt mir den Link zu einem entsprechenden Antrag der SPD in Hannover, in dem die dortige Catcalls-Gruppe ausdrücklich erwähnt wird.

Die Nürnbergerinnen wünschen sich eine enge Zusammenarbeit mit der Stadt und auch mit der Verkehrsaktiengesellschaft. „Viel passiert nämlich in öffentlichen Verkehrsmitteln.“ Tatsächlich ist es erschreckend auf dem Instagram-Account der „Catcalls of Nürnberg“ zu lesen, was Frauen in U-Bahnen und Bussen erlebt haben.

Unweit des Nürnberger Burggrabens, vor allem zwischen Hauptbahnhof und Plärrer, kommt es häufig zu Catcalling. Foto: Dina Davidova

Nun ist es nicht so, dass Mirjam und Dina, wenn sie persönlich verbal attackiert werden, sofort cool und abgeklärt reagieren. Die Arbeit an dem Thema macht nicht automatisch schlagfertig. Dafür ist es einfach jedes Mal zu heftig, überraschend und unfassbar, wenn Täter meinen, mit obszönen Sprüchen jemanden einfach mal in seiner Würde verletzen zu können.

„Aber ich bin mittlerweile einfach sehr sensibilisiert für feministische Themen und argumentiere zum Beispiel an der Uni sehr deutlich. Die alte Dina hätte das nicht getan.“ Mirjam hatte mit ihrer Mutter viele gute Gespräche darüber, was diese alles erlebt hat.

Gespräche mit der Oma

Und sogar mit ihrer fast 90-jährigen Oma gab es einen offenen Austausch: „Ihr Lieblingsonkel hat wohl immer wieder zu ihr gesagt, dass sie als Mädchen nicht so breitbeinig dasitzen soll. Ich habe sie gefragt, warum er trotz dieses Spruchs ihr Lieblingsonkel war und meine Oma war dafür offen, es hat sie zum Nachdenken gebracht.“

Auch das gehört vielleicht zur Vision der Catcalls-Gruppen, in welcher Stadt auch immer sie ankreiden: Dass ein generationenübergreifender, offener Austausch von Betroffenen und Nicht-Betroffenen endlich schafft, was gesellschaftlich bisher nicht gelungen ist. Nämlich klarzumachen, dass ohne Respekt nichts geht. Und wer den vermissen lässt, der bekommt was zu hören. Von allen, die es mitkriegen und in der Nähe sind. Dann haben wir ihn nämlich alle für uns alle zurückerobert – den öffentlichen Raum, in dem wir zu Hause sind.

Die Vision: Jedem und jeder ist klar, dass Catcalling gar nicht geht. Die Täter wissen: Wir stehen am Rande des Konsens. Und die Gesellschaft toleriert das nicht.

Hilfe bei Bedarf

Frauennotruf Nürnberg e. V., frauenBeratung nürnberg:
Fürther Straße 67, 90429 Nürnberg, Tel.0911-28 44 00, Mail: kontakt@frauenberatung-nuernberg.de, www.frauenberatung-nuernberg.de 

Telefonische Sprechzeiten:

Montag  10 – 12 Uhr
Dienstag bis Freitag  10 -1 4 Uhr

Wildwasser Nürnberg e.V., unterstützt Mädchen und Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben: Rückertstraße 1, 90419 Nürnberg, Telefon 0911-331330, info@wildwasser-nuernberg.de


Telefonische Sprechzeit:

Montag  12 – 14 Uhr
Diienstag  8:30 – 10:30 Uhr
Donnerstag  16 – 18 Uhr

Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“: 0800 116016