Foto: Ludwig Olah

Every Body - Susanna Curtis (vorne li.) und Tina Essl (vorne re.) choreografieren Stücke mit Menschen mit und ohne Behinderung. Tanzen kann jeder, im besten Fall verändert das auch überkommene Körperbilder.

Ute Möller
05.02.2024
Lesezeit: 6 Min.

„Du hast keinen Tänzerinnenkörper“

Die Choreografinnen Susanna Curtis und Tina Essl sind überzeugt: Tanz bewegt nicht nur Körper, sondern auch Klischees

Als Kind tanzte ich eine Weile Ballett. Hellblaues Trikot, weiße Strümpfe, rosa Schläppchen. Hand auf die Stange, Ellenbogen hoch, ausgedrehte Beine. Ich war nicht besonders ehrgeizig. Als meine Brüste in der Pubertät gefühlt von Tag zu Tag größer wurden, meldete ich mich aus dem Unterricht ab. Ich weiß nicht mehr, ob eine Lehrerin eine Bemerkung machte über meinen wenig feengleichen Körper. Ballett passte jedenfalls für mich noch weniger zu mir als vorher.

Ich probierte modernen Tanz aus und hatte viel Spaß dabei.

In meiner Elternzeit, viele Jahre später, belegte ich einen Workshop bei der Tänzerin Marketa Tomesova im Südpunkt in Nürnberg. Nach ein paar Stunden sagte Marketa zu mir: „Du hast Dich verändert, dein Körper hat eine ganz andere Ausstrahlung als zu Beginn.“ Tatsächlich fühlte ich mich freier und stärker. Als Nur-Mutter war ich manchmal wie erstarrt gewesen in meinen Pflichten, jetzt weitete sich mein Blick wieder.

Tanz gibt Klarheit

„Tanz gibt Klarheit über die Welt, man kann sich an ihm erfreuen und aus ihm schöpfen“, sagt die Tänzerin Tina Essl. Und das beschreibt meine eigene Erfahrung ganz gut. Ich treffe mich mit den Choreografinnen Tina Essl und Susanna Curtis im Nürnberger Künstlerhaus, wir sprechen über das Projekt „Every Body“. Das bringt auf Initiative von Susanna Curtis seit 2021 Menschen mit und ohne Handicap tanzend zusammen. Auf Bühnen, im öffentlichen Raum, bei Workshops. Gleich wird eine Gruppe aus Tanzenden im Alter zwischen 20 und 70 Jahren, mit und ohne körperliche Beeinträchtigung, hier im Künstlerhaus zusammen proben.

Regelmäßig tanzen Menschen mit und ohne Behinderung im Nürnberger Künstlerhaus zusammen, Tina Essl unterrichtet. Foto: Möller

Jeder Mensch ist ein Tänzer, sagte der Tanzphilosoph Rudolf von Laban zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aber wie viel Vielfalt ist auf Tanzbühnen tatsächlich möglich? Und wie ist das mit dem Schlanksein? Haben Tänzerinnen immer noch feengleiche Leichtgewichte zu sein?

Für Tina Essl, die nach Engagements unter anderem bei Irina Pauls in Leipzig, der Strada Compania Danza in Ulm, bei den Bregenzer Festspielen und am Theater an der Wien wieder in Franken arbeitet, war ihr Körper schon als Kind wichtig, um sich auszudrücken. „Bewegung war wie ein Fundament, das ich brauchte, um Dinge besser verstehen zu können.“ Sie trainierte Ballett, wollte dann eine Weile Tennisprofi werden, kehrte aber zum Tanzen zurück, weil ihr beim Sport die geistige Ebene fehlte.

Tänzerinnenkörper sollen schlank sein

Dass ihr Körper nicht passe, hörte sie von Tanzlehrerinnen und Ballettlehrern immer wieder. „Sie sagten, dass ich keinen Tänzerinnenkörper habe. Ich solle es besser lassen.“ Ihre Statur sei zu sportliche, zu korpulent, Hüften und Beine zu wenig geeignet für die wichtige Auswärtsdrehung im klassischen Tanz.

The woman in me: Neele Buchholz und Susanna Curtis erforschen tanzend, was für sie Frausein bedeutet. Foto: Daniele Buchholz

Auch während ihrer Tanzausbildung an der Schule für Darstellende Künste „die Etage“ Berlin seien alle sehr auf Äußerlichkeiten hin geformt worden. „Die schlanken Tänzerinnen waren immer die schöneren, also versuchte ich auch schlank zu sein und war in einem großen Konflikt mit meinem Körper.“

Das Ideal eines schönen, also schlanken Körpers verfolgt die 49-Jährige bis heute. Trotz aller Erfolge und Preise, die sie bekommen hat. „Das Schönere wird besser akzeptiert als das Normale, vielleicht weil es eine besondere Ästhetik hat“, sagt Tina Essl. Sie habe nie aufgehört Kalorien zu zählen, beim Essen aufzupassen. Um dem Ideal zu entsprechen.

Tanz kann ein inklusives Körperbild erschaffen

Vielleicht genau deshalb will die ausgebildete Tanzpädagogin, die auch an der Heilpädagogischen Tagesstätte der Lebenshilfe in Herzogenaurach arbeitet, auf der Bühne einen Gegen-Ort zum Konformismus schaffen. Sie schloss sich dem Projekt „Every Body“ von Susanna Curtis an, weil sie davon überzeugt ist, dass Tanz ein neues, inklusives, vielfältiges Körperbild erschaffen kann.

„Das geht aber nur langsam. Durch den Einfluss der sozialen Medien sind die Vorgaben, wie schöne Körper auszusehen haben, ja noch verstärkt worden. Aber wenn wir auf der Bühne voluminöse, alte und junge Körper zeigen und Menschen, die im Rollstuhl tanzen, geben wir Impulse. Wir zeigen: Jeder Körper ist besonders und in Ordnung.“

Stairways to heaven: Fest steht auch, wer Krücken braucht. Tanz ist Bewegung vielfältiger Körper, wer bitte braucht Stereotype? Foto: Ludwig Oha

Auch Susanna Curtis mit ihrem markanten Gesicht und dem ebenfalls nicht standardmäßigen Tänzerinnenkörper fiel oft aus dem Rahmen. Zu auffällig, zu groß, nicht der „Typ“ des Choreografen: „Ich habe immer Kommentare bekommen, aber ich habe weitergemacht, denn Tanzen ist das, was ich machen will, seit ich zehn Jahre alt bin“, sagt Susanna Curtis. Aufgewachsen in Schottland und seit 1995 in Nürnberg, tanzte sie unter anderem am Stadttheater Regensburg,  beim Czurda Tanztheater in Fürth , beim Theater der Klänge in Düsseldorf. Ihre Arbeit ist mehrfach ausgezeichnet worden.

Es dauere lange, sich in seinem Körper wohlzufühlen, sagt Susanna Curtis. Im zeitgenössischen Tanz änderten sich zwar langsam die Körper, die auf der Bühne zu sehen sind. Es komme mehr Vielfalt ins Spiel. Aber es gehe (zu) langsam voran. Sie möchte mit dem Projekt „Every Body“ Sichtweisen verändern, „ich möchte zeigen, dass tanzende Menschen auf der Bühne repräsentativ sind für die ganze Gesellschaft und nicht nur der Fokus auf Perfektion liegt.“

Tanz rückt näher an die Menschen

So könne sich das Publikum auch leichter mit dem identifizieren, was auf der Bühne zu sehen ist. Tanz rücke näher an die Menschen heran, wenn die Tanzenden vielfältig sind. Plötzlich liegt der Gedanke für die Zuschauenden näher: Tanzen, das könnte ich auch, mit oder ohne Behinderung.

Susanna Curtis zeigt sich in ihrem Solo-Stück „Do you contemporary dance?“ nackt auf der Bühne. Mit 59 Jahren, mit Falten und etwas Bauch. Der Moment ist grandios. Er macht deutlich, dass Schönheit kein Abziehbild eines stereotypen Ideals ist, sondern individuell. „Vor 20 Jahren hätte ich mich das nicht getraut“, jetzt zeigt sie: Es geht um das Schöne von Innen, um Selbstbewusstsein, Vertrauen in sich selbst, Freiheit von Erwartungen.

Susanna Curtis ist wie Tina Essl davon überzeugt, dass das Dagegenhalten gegen stereotype Erwartungen an (Frauen-)Körper Veränderungen bewirken kann. 2021 hatte das Stück „Exploring Borders“ von Curtis & Co. – dance affairs beim 1. Every Body-Festival für mixed-abled Tanz und Performance in Nürnberg Premiere. Ein Tänzer brauchte Krücken, um sich zu bewegen. Die Darstellenden waren älter und jünger, zusammen überschritten sie Grenzen, aufeinander zu und hin zu neuen Sichtweisen auf Tanz.

„Ich habe damals nach neuen Herausforderungen als Choreografin gesucht“, erzählt Susanna Curtis. „Es entstehen ganz andere Figuren, wenn ein Tänzer Krücken benutzt und nicht fest mit beiden Beinen auf dem Boden steht.“ Sie habe sich auch gefragt, ob es interessant sein kann, das Älterwerden zu zeigen. „Ist es noch spannend, diese Körper zu sehen? Ich finde ja, denn man sieht die jahrzehntelange Erfahrung in jeder Bewegung.“

Wenn Vielfalt an die Stelle eines Tänzerinnenideals tritt, entsteht Faszination. Grenzen im Kopf öffnen sich: Natürlich sind auch untrainierte, ältere oder bewegungseingeschränkte Körper ästhetisch.  Wieso auch nicht? Sie haben Energie, strahlen Freude aus, berühren das Publikum.

Annas Leidenschaft hat alle bewegt

So wie der Auftritt von Anna, die im Rollstuhl sitzt und zu der Gruppe gehört, die jetzt im zweiten Stock des Künstlerhauses zur Probe eintrudelt. Anna bleibt manchmal am Rande, schaut nur zu. Bei einer Aufführung habe sie plötzlich und für die anderen unerwartet begonnen, intensiv mitzutanzen, erzählt Tina Essl. Ihre Leidenschaft habe alle sehr bewegt.

Regelmäßig tanzt die Gruppe aus Menschen mit und ohne Behinderung samstags im Künstlerhaus zusammen. Anna erzählt, was ihr hier so gut gefällt: „Es ist kein Therapietanz, wir machen nicht immer dieselben Übungen und benutzen bestimmt keine Luftballons. Es fühlt sich an wie richtiger Tanz.“ Andrea kommt auch regelmäßig, die 38-Jährige hat das Down-Syndrom. Sie tanzt auch noch Squaredance, in einer nicht-inklusiven Gruppe. „Aber hier im Künstlerhaus sind endlich mal Menschen mit und ohne Handicap zusammen, das ist toll und macht Spaß. Ich habe ansonsten eine Welt mit Down-Syndrom und eine ohne, aber hier kommt beides zusammen.“

Im Rollstuhl oder nicht, älter oder jünger – die Bewegung fließt, sich einlassen auf die anderen. Das ist Tanz. Foto: Möller

Gerhard ist 69, er ist dabei, weil hier keine Standards zu erfüllen sind. „Es gibt keine Leistungsvorstellung, jeder wird so genommen, wie er ist.“ Es sei spannend zu sehen, wie unterschiedlich sich jede und jeder ausdrückt, es sei sehr emotional. Die Bewegungen fließen, alle lassen sich darauf ein, was für sie und die anderen möglich ist. Das sei das Gegenteil von Perfektion. „Man muss gar nicht wissen, wo die anderen herkommen, und fühlt sich trotzdem verbunden.“

Tanz ist Freude und im guten Fall eine gesellschaftliche Vision

Klingt nach Freude und auch nach einer gesellschaftlichen Vision. Tanz bewegt, im guten Fall auch unsere Sicht auf Stereotype und Erwartungen. Schauen wir hin, machen wir mit. Zusammen kann es nur besser werden, oder?