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Die Grüne Landesvorsitzende in Thüringen, Ann-Sophie Bohm, beobachtet eine Radikalisierung der Wählerschaft der AfD.

Ute Möller
13.02.2024
Lesezeit: 6 Min.

„Die Wende spielt noch eine große Rolle“

Die Grüne Landesvorsitzende in Thüringen Ann-Sophie Bohm über Rechtsradikale und positive Gegenbilder

Als ich 2023 mit der früheren Grünen-Stadträtin aus Leipzig, Sophia Kraft, bei einer Veranstaltung in Nürnberg über Frauen in der Politik diskutierte, erzählte sie mir von einer Kommunalpolitikerin aus Ostdeutschland, die anonym wegen Kindeswohlgefährdung angezeigt worden sei, weil sie ihren kleinen Sohn in eine Stadtratssitzung mitgebracht hatte. Ich war fassungslos. Okay, wir wissen, dass Politik nicht sehr familienkompatibel ist, aber diese Form der Intoleranz entsetzte mich.

Als ich jetzt Ann-Sophie Bohm, die Landesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen in Thüringen, um ein Interview bat, wurde mir bei der Vorbereitung auf das Gespräch klar, dass sie es ist, die 2021 die Anzeige kassiert hatte. Natürlich beginnen wir mit dem Mütter-Mobbing in der Politik unseren Zoom-Call.

„Mein Mann ist auch Stadtrat und wir haben damals unseren sieben Monate alten Sohn zusammen in eine wichtige Sitzung des Weimarer Stadtrats mitgenommen, weil die Oma keine Zeit hatte sich zu kümmern“, erzählt mir Ann-Sophia Bohm. Ihr Mann verließ die Sitzung früher, um das Baby zu Hause ins Bett zu bringen.

Schnappschuss von einem Wochenende in Weimar. Foto: Möller

Sie gehe davon aus, dass die Anzeige die Aktion eines politischen Gegners gewesen ist, aber aufgeklärt habe sich das nie. „Es gab ein kurzes Gespräch mit dem Jugendamt, dann war die Sache erledigt“, doch die Sache ließ ihr keine Ruhe. Sie twitterte die Frage, ob das die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sei, von der immer alle sprechen? Es folgte eine Flut an solidarischen Kommentaren.

Bereits 2018 musste die Grüne Landtagsabgeordnete aus Thüringen, Madeleine Henfling, eine Plenarsitzung verlassen, weil sie ihr Kind mitgebracht hatte. Später wurden Babys im thüringischen Plenarsaal erlaubt und ein Stillzimmer eingerichtet. Doch in Weimar habe sich seit 2021 nichts verändert, kritisiert Ann-Sophie Bohm. „Wir haben keine progressive Mehrheit im Stadtrat, mit der man nach Lösungen für eine bessere Vereinbarkeit suchen könnte.“ Der parteilose Oberbürgermeister Peter Kleine habe sich auch nicht solidarisch gezeigt.

Politisches Ehrenamt und Familie – schwer zu vereinbaren

„Es gab vorher schon die Möglichkeit, sich Kinderbetreuungskosten erstatten zu lassen, aber für Sitzungen in den Abendstunden bringt das nichts, weil es für kleine Kinder einfach irgendwann zu spät ist.“ Familienunfreundliche Sitzungszeiten und kein Anrecht auf Elternzeit – beides schließt Eltern kleiner Kinder aus politischen Ehrenämtern aus.

Es ist wohl kein Zufall, dass nur vier Stadträtinnen und Stadträte in Weimar kleine Kinder haben. Aber Frauen in der Politik sind nicht das vorrangige Thema, über das ich mit Ann-Sophie sprechen möchte. Mich interessiert ihr Blick auf das Erstarken der Rechtsradikalen in Thüringen.

Die Grüne Landesvorsitzende in Thüringen Ann-Sophie Bohm im Interview über Rechtsradikale und positive Gegenbilder. (Mehr...)
Ann-Sophie Bohm ist gerne draußen in der Natur. Foto: privat

Laut aktuellen Prognosen kann die eindeutig als rechtsradikal eingestufte thüringische AfD bei den Landtagswahl am 1.September über 30 Prozent der Stimmen bekommen. Die Grünen lagen in den jüngsten Voraussagen bei vier bis sechs Prozent. Geht es hier um David gegen Goliath? Nicht, was die Zahl der Mitglieder anbelangt. „Wir haben knapp unter 1400 Mitglieder, die AfD hat weniger, aber deren Ideologie verbreitet sich eben auch über die Stammtische“, sagt Ann-Sophie, die in Weimar als Direktkandidatin und auf Listenplatz 5 für den Landtag kandidiert. Die AfD kassiere zudem viele Geldspenden und mache über Plakate, Flyer und auf social media sehr deutlich, dass sie in Thüringen präsent ist.

Schon bei der letzten Landtagswahl 2019 sei die AfD stark gewesen, aber das gesellschaftliche Klima sei noch so gewesen, dass Leute sich nicht trauten offen zuzugeben, dass sie mit der AfD sympathisieren. „Die haben das damals eher für sich behalten, aber das hat sich extrem gedreht. Leute sagen das heute offen und tragen es vor sich her wie eine Flagge.“ Es fehle der gesellschaftliche Widerspruch, der ihnen klar macht, dass es nicht in Ordnung ist, eine faschistische Partei zu wählen.

AfD zieht Unzufriedene geschickt auf ihre Seite

Wieso hat sich das Klima in Thüringen in den letzten Jahren so gewandelt? „Die vielen Krisen haben den Menschen psychisch und ökonomisch zugesetzt, so ein Dauerkrisenmodus macht ja was mit einem. Außerdem wird in Thüringen besonders gerne gemeckert. Wenn einem etwas nicht passt, läge es nahe, etwas verändern zu wollen, aber viele jammern nur, auch in Situationen, in denen es ihnen noch verhältnismäßig gut geht.“ Die AfD stelle es sehr schlau an, die Unzufriedenen auf ihre Seite zu ziehen.

Einerseits gebe es die Wählerinnen und Wähler, die in die AfD ihre Hoffnungen projizieren, ohne sich mit dem Wahlprogramm zu befassen. So wie eine Mutter, die vor den Landratswahlen in Sonneberg gesagt habe, dass Kitaplätze fehlten und sie deshalb den AfD-Kandidaten wähle. „Es ist schon erstaunlich, wie wenig sich Menschen oft mit politischen Inhalten beschäftigen, aber es gibt auch diejenigen, die bewusst faschistisch wählen. Wir beobachten, dass die AfD in Thüringen noch mehr Zuspruch bekommt, seit sie sich offen rechtsextrem zeigt.“

AfD-Wählende radikalisierten sich zunehmend. Lange hätten sie gesagt, dass sie die Partei trotz ihres rechtsextremen Landesvorsitzenden Björn Höcke wählen, „aber in den letzten Monaten hat der stark an Zustimmung gewonnen und jetzt wählen immer mehr Leute die AfD wegen Höcke.“

Einmischen erfordert Mut

Ein Lichtblick seien auch in Thüringen die Demonstrationen für Demokratie; nicht nur in den Städten, auch auf dem Land gingen Menschen auf die Straße. „Es entstehen neue Strukturen. Die Menschen organisieren sich und meckern nicht nur, sondern mischen sich ein, das erfordert Mut“, sagt Ann-Sophie. Denn wo wie in Sonneberg seit ein paar Monaten ein AfD-Landrat im Amt ist oder wo wie im Saale-Orla-Kreis, wo der AfD-Landratskandidat erst in der Stichwahl verlor, über ein Drittel der Menschen mit der AfD sympathisiert, treffe man die extremen Rechten überall. Beim Bäcker, im Sportverein, da wird Politik persönlich.

„Wer sich dann noch als Grün outet, hat es noch mal schwerer. Die Grünen sind das Feindbild schlechthin, einige unserer Mitglieder hatten Zettel mit Beleidigungen im Briefkasten oder ihre Gartenzäune wurden beschmiert. Um Weihnachten herum hatten wir viele Angriffe auf Grüne Büros.“ Die Demos gegen Faschismus seien auch wichtig, weil sie den Menschen auf dem Land zeigen, dass sie nicht allein sind.

Welche Rolle spielt die Wiedervereinigung für die politische Einstellung der Menschen in Thüringen, will ich von Ann-Sophie wissen. Wir haben beide das Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ des Leipziger Literaturprofessors Dirk Oschmann zumindest quer gelesen. „Die Wende spielt für viele noch eine unglaublich große Rolle, teilweise ist sie ein unaufgearbeitetes Trauma“, glaubt Ann-Sophie.

Termine bei den Menschen vor Ort, Austausch über Sorgen und Wünsche, das ist Ann-Sophie wichtig. Foto: privat

Da helfe es nicht, wenn allzu oft mit der westdeutschen Brille auf die Ossis geguckt werde und Medien den Osten in ein schlechtes Licht rücken. Im Gegenteil: Das spiele den Rechtsradikalen in die Hände. Die Rechtsextremen machten 2019 Wahlkampf mit dem Slogan ,Die AfD vollendet die Wende’ und der Appell ans fragile Selbstverständnis vieler Ostdeutscher habe gefruchtet.

Dass zu den Grundwerten Grüner Politik auch Solidarität gehört, ziehe leider nicht so recht. „In der DDR war Solidarität ja Teil der von oben verordneten Staatsdoktrin, das macht für viele bis heute den Umgang mit ihr schwierig. Außerdem waren nach der Wiedervereinigung viele Menschen im Osten auf sich allein gestellt. Sie erlebten, dass ihre Biografie plötzlich nichts mehr wert war und sie sich selber helfen mussten. Bei einigen führte das dazu, dass sie jetzt Geflüchteten nicht gönnen, wenn sie Unterstützung bekommen. Wer selber nicht gut da steht, tut sich schwer damit, solidarisch zu sein.“

Die CDU rückt immer weiter nach rechts

Ann-Sophie sieht die Gefahr, dass es, unterstützt von der CDU, nach der Landtagswahl in Thüringen zu einer Minderheitsregierung mit Tolerierung durch die AfD kommt. Doch in den nächsten Monaten wird sie alles tun, damit es nicht dazu kommt. „Aber es ist schwer, die CDU rückt immer weiter nach rechts, im Landtag verabschiedet sie sehenden Auges mit der AfD Gesetze.“ Damit verharmlose sie rechtsextreme Ideen und rechtsextreme Haltung.

Die Grünen setzen alles daran, dass möglichst viele Menschen zur Wahl gehen, die ihrer Politik nahe stehen. Das wird hart genug, weil zwar in den Städten die Zahl der Menschen mit Grünem Parteibuch steigt, es auf dem Land aber Kreisverbände mit nur 20 Mitgliedern gibt. Mit wenig Aktiven wird der Wahlkampf hart. „Aber wir freuen uns sehr, dass Grüne Kreisverbände aus dem Westen ihre Unterstützung zugesagt haben.“

Zum Schluss frage ich doch noch mal nach der Frauenpolitik in Thüringen. „Mit Blick auf die konservative CDU und die AfD wird immer mehr Leuten klar, was für die Frauenrechte auf dem Spiel steht“, ist Ann-Sophie überzeugt. Aber es gebe Unterschiede zwischen den Generationen: Ältere, im Osten sozialisierte Frauen, die immer selbstverständlich gearbeitet haben, hätten ein anderes Verständnis von Gleichstellung als jüngere Frauen. „Die Jungen sind eher feministisch unterwegs und fordern, dass mehr für die Frauenrechte passieren muss.“

Wir brauchen in der Politik die weibliche Sicht

Im Osten ist der Gender-Pay-Gap geringer als im Westen, es gibt mehr Kinderbetreuungsplätze, „aber auch die hat Grenzen“. Mit der Wende sei das liberalere Abtreibungsrecht der DDR abgeschafft worden, auch im Scheidungsrecht habe die Wiedervereinigung für die Ost-Frauen Rückschritte gebracht. „Sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz gibt es bei uns auch und auch im Osten haben die Männer das weniger auf dem Schirm, weil sie es selber ja nicht erleben.“

Und auch im Osten müssten Politikerinnen mehr kämpfen als ihre männlichen Kollegen, weil erst mal nicht so ernst genommen werde, was sie sagen. „Es fehlen Frauen im politischen Ehrenamt, auch, weil viele die Konfrontationen im unkooperativen Politikbetrieb scheuen. Aber wir brauchen die weibliche Sicht.“

Auch für die so wichtigen positiven Erzählungen darüber, wie sich Thüringen gestalten lässt. „Die AfD zeichnet von allem nur ein negatives Bild. Die stärkste Wirkung können die progressiven Kräfte entfalten, wenn sie gemeinsam den Menschen deutlich machen, welche positiven Veränderungen möglich sind.“

Ann-Sophie Bohm

Ann-Sophie Bohm (30) wurde in Erfurt geboren. Sie studierte Politikwissenschaft und Soziologie in Halle, dort war sie von 2014 bis 2016 für Bündnis 90/Die Grünen Mitglied des Stadtrats sowie Sprecherin der Grünen Hochschulgruppe Halle. Nach dem Studium ging sie nach Weimar, seit 2019 sitzt sie im Stadtrat, sie ist Fraktionsvorsitzende und seit 2020 Landesvorsitzende der Grünen in Thüringen. Sie kandidierte bereits 2019 für den Landtag und tritt jetzt wieder für das Landesplenum an. Darin sitzen aktuell fünf Grüne Abgeordnete, davon sind vier Frauen. Sie ging in die Politik, um Dinge zu verändern. Einfach zu zugucken, das ist ihre Sache nicht. Foto: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Thüringen/Paul-Philipp Braun