Ich bin immer wieder überrascht, welche dringend nötigen Strukturen es bislang einfach nicht gibt. Als die Stadt Nürnberg jetzt zum Pressegespräch zum Thema häusliche Gewalt und Kinderschutz einlud, war der Überraschungseffekt wieder da. Leider.
Denn die „Handlungsleitlinien zur Verfahrensweise bei häuslicher Gewalt und Elternschaft“, die in Nürnberg entwickelt wurden, haben bundesweit laut Kerstin Schröder, Leiterin des Jugendamts Nürnberg, ein Alleinstellungsmerkmal. Hinter dem sperrigen Titel steckt ein wichtiges Ziel, das meiner Meinung nach längst erreicht sein müsste: Das Nürnberger Jugendamt hat mit dem Allgemeinen Sozialdienst, Fachstellen, Gewaltberatungsstellen, Frauenhäusern, Hochschulen, der Polizei und dem Familiengericht den Leitfaden seit 2020 entwickelt, damit Kinder bei Gewalt in der Familie in einem abgestimmten, gemeinsamen Vorgehen besser geschützt werden.
Täter leugnen die Gewalt meistens
Wenn Kinder in der Familie Gewalt erleben, wenn sie selber misshandelt werden oder es zwischen ihren Eltern sehen, ist dies mit erheblichen Risiken für ihre gesunde Entwicklung verbunden. Die Akteurinnen und Akteure in Nürnberg wollten Strukturen aufbauen, um das Kindeswohl vor den Familiengerichten und bei Regelungen für Umgangskontakte nach der Trennung der Eltern ganz klar in den Vordergrund zu stellen.
„Wir sind eine Verantwortungsgemeinschaft und die Leitlinien die Grundlage für unser Handeln“, fasst Barbara Grill, Geschäftsführerin des Frauenhauses Nürnberg, zusammen. Es sei sehr schwierig, in jedem Einzelfall die genauen Umstände festzustellen, zumal Täter meistens massiv abstritten, dass sie gewalttätig waren. „Die Situation der Kinder und deren Bedürfnisse werden oft nicht hinreichend erkannt, auch weil die Sachkenntnis der Einrichtungen für Betroffene bisher wenig oder nur unregelmäßig einbezogen wurde.“ Der Handlungsleitfaden stelle jetzt endlich Fachwissen und wissenschaftliche Erkenntnisse bereit, damit alle zum Wohle der Kinder an einem Strang ziehen.
Dies sei auch vor dem Hintergrund bedeutsam, dass die Stadt Nürnberg mit vielen Fachstellen einen Aktionsplan zur Umsetzung der Istanbul-Konvention erarbeite, ergänzt die städtische Gleichstellungsbeauftragten Hedwig Schouten. Ergebnisse sollen 2024 vor der Sommerpause dem Stadtrat präsentiert werden.
Familiengericht erhält Berichte der Fachstellen
Zentral war die Beteiligung des Familiengerichts an der Entwicklung der Leitlinien, denn schließlich wird dort etwa über Umgangsregelungen entschieden. Hier stehen sich das Recht der Kinder auf Schutz und das Recht der Eltern auf Umgang und Sorge gegenüber. Es muss gut abgewogen werden, welcher Kontakt zum Täter den Kindern überhaupt zuzumuten ist. Das Frauenhaus verfasse regelmäßig Berichte, um Familiengerichte beispielsweise darüber zu informieren, ob sich Kinder nach Treffen mit dem Täter auffällig verhalten, sagt Barbara Grill.
Wie gesagt: Erstaunlicherweise scheint es bundesweit noch keineswegs Standard zu sein, dass sich die Akteurinnen und Akteure in Kommunen oder Landkreisen auf ein gemeinsames Vorgehen für den Schutz des Kindeswohls bei häuslicher Gewalt vereinbaren. Dabei erscheint das auch mit Blick auf Zahlen des Bundesinnenministeriums für 2022 dringend geboten: Bei 35,1 Prozent der Opfer von innerfamiliärer Gewalt bundesweit handelt es sich um Kinder und Jugendliche. Dazu kommen noch die Kinder, die Gewalt zwischen ihren Eltern oder anderen Familienmitgliedern erleben. Insgesamt steigen die Zahlen von polizeilich registrierter häuslicher Gewalt nahezu kontinuierlich an, in den letzten fünf Jahren um 13 Prozent. Und dabei ist die Dunkelziffer noch sehr hoch.
Frauenhaus mit Warteliste – das muss sich ändern
Die beiden Nürnberger Frauenhäuser und die Verantwortlichen der Männerschutzwohnung geben an, dass dort 2022 insgesamt rund 12000 von Gewalt betroffene Frauen und Männern übernachtet haben. Die meisten brachten Kinder mit. Männer machten rund zehn Prozent der Schutzsuchenden aus. 2022 haben die Frauenberatung und die Beratungsstelle des Frauenhauses 405 Mütter zu häuslicher Gewalt und/oder Stalking beraten.
Bekanntlich gibt es in Bayern viel zu wenig Frauenschutzeinrichtungen, auch bei männlichen Opfern von Gewalt ist der Bedarf höher als das Angebot. Die Konsequenz sind lange Wartelisten. Dies belastet die betroffenen Kinder zusätzlich. Der Freistaat muss endlich in zusätzliche Plätze investieren, auch das ist dringend geboten.