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Wie frei sind wir wirklich? Tanja Zirnstein arbeitete zwei Monate nach der Geburt ihres Sohnes wieder, dafür hagelte es Kritik.

Ute Möller
11.02.2022
Lesezeit: 5 Min.

„Das macht eine Mutter doch nicht“

Bleib zu Hause, sonst schadest du dem Kind: Unternehmerin Tanja Zirnstein trat auf LinkedIn eine Debatte über die Erwartungen an Mütter los

Über 600 Kommentare, über 600 mal: „Glückwunsch zur Entscheidung!“ „Seien Sie stolz auf sich!“ „Dein Beitrag ist sooo wertvoll!“  Plus viele 😊.  Adressatin der warmen Welle der Sympathie ist Tanja Zirnstein, Gründerin des Unternehmens  UVIS UV-Innovative Solutions GmbH. Die Kommentare auf der Businessplattform LinkedIn könnten sich auf ihren fachlichen Beitrag zum Thema Flächendesinfektion beziehen. Das ist schließlich das, worum sich die Kölnerin mit ihrem Unternehmen kümmert. „Glückwunsch, dass dank Ihrer Technik die Handläufe der imposanten Rolltreppe in der atemberaubend beeindruckenden Elbphilharmonie immer frisch desinfiziert sind. Mega!“ So was in der Art.

Doch in den Kommentaren geht es nicht um Tanja Zirnsteins berufliche Erfolge, sondern um etwas, dass eigentlich niemand anderen scheren sollte, als die 29-Jährige und ihren Mann. Die beiden haben ganz einfach entschieden, dass sie beide nach der Geburt ihres Sohnes zwei Monate pausieren und dann in den Job zurückkehren. Sie in ihre Firma, er in seine Rechtsanwaltskanzlei. Der Sohn ist gut versorgt, also alles gut? Von wegen.

„Och, das arme Kind!“

Die deutsche Mutter bleibt daheim beim Kind, länger als zwei Monate, länger als sechs Monate – ja, wie lange eigentlich, um nicht schief angeguckt zu werden? Um nicht zu hören: „Och, das arme Kind, hast du dir das gut überlegt? Das macht eine Mutter doch nicht, so früh wieder ins Büro zu gehen und das Kind abzugeben!“

Ganz so, als lebten wir noch in der Hausfrauen-Steinzeit der 1950er Jahre, oder in den 1970ern, in denen Männer den Gattinnen die Berufstätigkeit erlaubten. Tun wir nicht. Aber wie frei sind wir in unseren Entscheidungen tatsächlich, bis uns unser Umfeld mit Tadel abstraft und versucht, uns Grenzen zu setzen? Tanja Zirnstein spürt die Kraft konservativer Rollenzuordnungen gerade ziemlich heftig. Und machte genau das zum Thema in den sozialen Medien. Genau dafür hagelte es nämlich die Glückwünsche auf LinkedIn.

Tanja Zirnsteins Post auf LinkedIn

„Das war mein erster persönlicher Post zu einem gesellschaftspolitischen Thema“, erzählt die Unternehmerin. Der Inhalt: Während ihr Mann himmelhoch gelobt wurde, wie fortschrittlich er sei und was für ein toller Vater, weil er in den ersten zwei Monaten nach der Geburt seines Sohnes zu Hause blieb, musste sie sich dafür rechtfertigen, dass sie nach dem Mutterschutz wieder die Verantwortung für ihr Unternehmen übernommen hat.

Tanja Zirnsteins Unternehmen entwickelt Module, die Oberflächen mit UVC-Licht desinfizieren. Foto: KONE

„Warum wird von der Mutter noch immer erwartet, sich Zuhause um die Kinder zu kümmern? Warum ist es immer noch so besonders, wenn Väter sich ebenso intensiv um die gemeinsamen Kinder kümmern oder besser, wenn man sich als Eltern gleichberechtigt um die Kinder kümmert?“ Mit diesen Fragen trat sie auf LinkedIn etwas los, womit sie nie gerechnet hatte. Über 11 300 Likes, über 600 Kommentare. Die meisten unterstützen Tanja Zirnstein, nur wenige kritisieren. „Es ist crazy, wie das abgegangen ist, damit habe ich nicht gerechnet.“ Die Kölnerin fühlt sich bestärkt, „aber es ist auch heftig, wie viele das Gleiche erlebt haben wie ich.“  Heute genauso wie vor 30 Jahren.

Blödes Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen

Nämlich Verwunderung, Kopfschütteln, mahnende Nachfragen, als sie während ihrer Schwangerschaft erzählte, dass sie zwei Monate nach der Geburt wieder arbeiten möchte. „Oft waren es Kinderlose, die meinten, dass sei keine gute Idee. Frau sollte schon länger beim Kind zu Hause bleiben.“ Sie hatte das blöde Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen.

Oft seien es Frauen, die meinen, sie rügen zu müssen.  Auch die negativen Kommentare auf LinkedIn haben überwiegend weibliche Absender. Von Männern kommt viel Zuspruch. „Meine Frau wurde ebenso kritisiert, als sie nach den Geburten unserer Kinder jeweils wegen veralteten Ansichten (vor)verurteilt wurde. Ich finde es traurig und beschämend, dass man sich für sein Privatleben überhaupt rechtfertigen muss“, schreibt ein Mitarbeiter von Tanja Zirnstein.

„Ein Kind braucht seine Mutter“

Ein anderer Mann postet: „Als Vater, der 14 Monate Elternzeit genommen hat, könnte ich Geschichten erzählen… Von leichter Irritation über völliges Unverständnis bis hin zu moralisch behafteten Debatten (ein Kind braucht seine Mutter!) war da so ziemlich alles dabei. Und was meine Frau sich anhören musste, gebe ich hier besser nicht wieder. Erschreckend. Da hast du recht!“

Zu der Frage, warum ausgerechnet Frauen mit Frauen hart ins Gericht gehen, schreibt eine Bloggerin aus Baden-Württemberg: „Ich habe manchmal das Gefühl, dass es eher Neid ist, weil es Frauen gibt, die es wagen auszubrechen. Oder es ist das Unverständnis darüber, weil es komplett gegen die eigenen Ansichten geht. Andere Lebensweisen zu akzeptieren, ist in der Gesellschaft leider nicht immer sonderlich ausgeprägt.“

Tanja Zirnstein und Mitgründerin Katharina Obladen: „Wir mussten immer wieder gegen das Vorurteil angehen, dass Frauen keine Technik können.“ Foto: Udo Geisler

Das Ausmaß der Reaktionen hat Tanja Zirnstein zu der Überzeugung gebracht, dass es wichtig ist, immer wieder über die so verdammt hartnäckigen Rollenklischees zu sprechen. Dass sie diese nicht still schluckte und öffentlich machte, was sie in ihrem Umfeld erlebte, hänge vielleicht damit zusammen, dass sie als Gründerin immer wieder gegen Stereotype angehen musste.

Schon mit 17 in der Schule hatte sie ihre Geschäftsidee, nach dem Jurastudium gründete sie zusammen mit Katharina Obladen UVIS. Das Unternehmen stellt Technik her, die mit UVC-Licht Oberflächen desinfiziert. Zum Beispiel die Handläufe von Rolltreppen. Oder als transportable Module Flächen in Arztpraxen und Hotels, ganz ohne Einsatz von Chemie.

Wie zwei rosa Zebras

„Wir mussten als Gründerinnen immer wieder gegen das Vorurteil angehen, dass Frauen keine Technik können. Wir haben nicht mit Baby-Mode gegründet oder mit Kosmetik, sondern im Tech-Bereich. Und unsere Kunden sind große Unternehmen, in denen wir oft auf reine Männerrunden treffen. Wir sitzen dann da wie die rosa Zebras mittendrin. Sich zu profilieren geht nur, wenn wir doppelt so viel Know-how liefern wie Männer.“

Corona war gut fürs Geschäft und Tanja Zirnstein wollte auf keinen Fall nach zehn Jahren harter Arbeit ihr Unternehmen einfach fallen lassen, weil sie Mutter wurde. Warum auch? „Es geht beides. Im Moment bin ich viel im Homeoffice und mein Mann und ich gehen abwechselnd mit dem Kinderwagen spazieren. Wenn ich einen Termin habe, muss ich vielleicht mal früher gehen, um zu stillen, aber dann kann meine Mitgründerin alleine weitermachen.“ Starre Arbeitszeitmodelle seien ohnehin nicht mehr zeitgemäß. „Es wird doch sowieso immer mehr an der Produktivität gemessen, wie wir arbeiten, auch in unserem Unternehmen.“

Eigentlich könnte alles so einfach sein. Wenn nicht zu viele in Klischees festsäßen und damit andere einengen. Mütter und Väter zum Beispiel. Tanja Zirnstein gehört zu einer Generation, der man zutrauen könnte, mit Stereotypen aufzuräumen.

Die vielen Kommentare unter ihrem Post machen Mut. Vorausgesetzt, die Bubble schafft es, über sich hinaus zu wirken. Das ist ohnehin eine der größten Herausforderungen: Nicht nur diejenigen von der eigenen Überzeugung zu überzeugen, die sie ohnehin schon teilen. Wie das gelingen kann, ist ebenfalls ein wichtiges Thema, über das wir immer wieder sprechen sollten. Mit so vielen unterschiedlichen Menschen wie möglich.