Foto: Ute Möller

Julia, Viktoriia N. und ihre beste Freundin Viktoriia M., Kateryna und Nataliia (v.li.): Am 6. März flohen sie per Bus aus Odessa. Jetzt leben sie in Nürnberg.

Ute Möller
29.03.2022
Lesezeit: 6 Min.

„Dann kam statt der Unruhe die Angst“

In Odessa hatten sie ein ganz normales Leben, bis der Krieg anfing: Vier Frauen aus der Ukraine erzählen von ihrer Flucht

Anschreiben gegen den Krieg. Gegen einen Krieg in der Ukraine, den kaum jemand für möglich gehalten hat. Geht das? Reden, fragen, antworten, beschreiben – jedenfalls sind das Wege, um Nähe zu finden und Brücken zu bauen. Dieser Text ist ein Blick in das, was vier Freundinnen aus Odessa erleben mussten, weil Wladimir Putin einen grausamen Krieg gegen ihr Land begann. Darüber zu reden, schafft für sie Nähe zu sich und den Schrecken der letzten Wochen. Und dabei entstehen Brücken hinein in das Leben derjenigen, die ihnen zuhören. Zu dem, was wir jetzt tun können, um ihnen zu helfen. Hier in Nürnberg und überall sonst in Deutschland.

Sonntag, 6.März, 7 Uhr morgens: Für die Freundinnen Kateryna und Nataliia, Viktoriia N. und Viktoriia M., ihre Kinder und über 30 andere Menschen aus der Hafenstadt Odessa in der Ukraine beginnt die Flucht aus dem Krieg. Das Ziel der Busfahrt, Nürnberg in Deutschland, ist für die vier Frauen nur eine rote Stecknadel auf der Google maps-Karte. Den Endpunkt der dreitägigen Fahrt nehmen sie gleichsam in Kauf für den einen, entscheidenden Schritt – das Überqueren der ukrainisch-moldawischen Grenze.

Luft holen, im letzten Moment

Der Moment, als sie dem Krieg den Rücken kehrten, als sie physisch die Grenze überquerten, habe sich angefühlt wie Luft zu holen im letzten Moment, nachdem man so lange wie möglich von einem einzigen tiefen Einatmen gezehrt hatte, erzählen die Frauen. Der Verstand schaltete sich weg – sie wisse kaum, wie sie nach Nürnberg gekommen sei, sagt Nataliia.

Es sei wie ein Traum gewesen, der sie und ihre zwei Töchter aus der Ukraine nach Nürnberg trug. Sie ließ geschehen, dass ihr erfülltes und zufriedenes Leben durch die Flucht aus der Ukraine „wieder auf Null gestellt wurde“. Auf der Schotterfläche des Parkplatzes neben dem Nürnberger Hauptbahnhof strandeten die Frauen im Nichts eines neuen Lebens, von dem sie nicht wissen, wie es morgen und übermorgen weitergeht.

Stau an der rumänisch-ungarischen Grenze: Dieses Foto haben die Frauen aus der Ukraine auf der Flucht aus ihrem Bus heraus aufgenommen.

Ich sitze den Frauen gegenüber, SPD-Stadträtin Diana Liberova und ihr Mann dolmetschen. Ich habe mir Fragen überlegt und sie am Tag vorher den Ukrainerinnen über Diana zukommen lassen. Die schrieb schnell zurück: „Bring morgen Schokolade und Wein mit, es sind ziemlich harte Emotionen bei den Frauen mit einzelnen Fragen verbunden.“ Krieg im 21. Jahrhundert, Wladimir Putin, der Aggressor, der Menschenverachter, „der Menschen dafür tötet, dass sie ihr eigenes Leben führen wollen, das alles haben wir nicht für möglich gehalten“, sagt Kateryna.

Sie alle hätten am 24.Februar 2022, als der Angriff Russlands auf die Ukraine begann, geglaubt, dass der Krieg schnell vorbei ist. Doch dann kamen die Ausgangssperren, dauerhafte Beschüsse durch die russischen Truppen, Sirenen, Bomben detonierten. Aus Mariupol wurden die ersten getöteten Zivilisten gemeldet, immer mehr Frauen verließen auch die Millionenstadt Odessa.

Die Männer sind bedrückt und verloren

Die Männer müssen bleiben, um das Land zu verteidigen. Sie seien zerrissen zwischen der Sorge um die Ukraine und die um ihre Familie, sagen die Frauen. Die Männer seien „bedrückt und verloren“. Sie habe die Verantwortung für die Entscheidung, mit ihrem achtjährigen Sohn zu fliehen, allein auf sich genommen, sagt Kateryna. Die Kinder seien ausschlaggebend gewesen, fügt Nataliia hinzu. „Die Frage, die sich uns stellte, war: Können wir es verantworten zu bleiben und dann passiert ihnen etwas?“

Die Leben der vier Frauen standen an ganz unterschiedlichen Punkten, als sie die Fahrt antraten in dem Bus, den ein „wohltätiger Mann“ organisiert hatte, von dem sie nicht mehr wussten, als dass er Frauen und Kinder in Sicherheit bringen wollte. „Eine Bekannte sagte zu mir: Du kannst ihm vertrauen, fahr mit“, erzählt Kateryna. Die 34-Jährige arbeitete in Odessa in der Personalabteilung eines IT-Unternehmens. Ihr Mann ist Ingenieur und im Hafen beschäftigt.

In einem Schwangerschaftskurs lernte sie vor über acht Jahren Nataliia kennen. Deren Töchter sind sechs und acht Jahre alt, die 41-Jährige hat ihr Leben lang als Buchhalterin gearbeitet.

„Ich hatte ein gesundes Leben mit Mann, Kindern und Katze. Gewohnt haben wir gegenüber von einem Militärstützpunkt, dort arbeitet die Schwester meines Mannes. Als dort Raketen einschlugen, hörte sich das sehr nah an.“

Der Blick aus dem Wohnhaus von Nataliia in der wunderschönen Hafenstadt Odessa, im Hintergrund schlägt eine Rakete ein.

Nataliia deponierte haltbare Lebensmittel im Keller, heulten die Sirenen, rannte sie mit ihren Kindern runter. Als ein Fluchtbus in Richtung Prag gecancelt wurde, spürte sie, dass sie weg will. Ihr Mann habe sich nicht vorstellen können, dass sie tatsächlich mit den Kindern geht. „Nürnberg klang so unendlich weit weg.“

Für Viktoriia war das Leben schon vor dem Krieg schwer

Die beiden Viktoriias kennen sich seit über 20 Jahren, sie sind beste Freundinnen. Viktoriia N. sitzt mir gegenüber, die schmale Frau mit den langen blonden Haaren hat zu Beginn des Jahres ihren Mann verloren. Schon vor dem Krieg war das Jahr für die 36-Jährige zu schwer, „jetzt ist es extrem, ich habe das Gefühl, mein Leben gehört mir nicht mehr“, sagt die Mutter von zwölfjährigen Zwillingen.

Viktoriia M. hatte viele Pläne für dieses Jahr, „ich führte ein komfortables Leben und in diesem wunderbaren Moment kam der Krieg und die Wertigkeit der Dinge hat sich komplett verändert“, erzählt die 37-Jährige. Was vorher wichtig war, sei nicht mehr der Rede wert gewesen.

Sie zog zu ihrer besten Freundin, beide warteten zusammen ab. „Ich wollte nicht weggehen, aber wenn du nicht mehr weißt, wann du aus dem Haus gehen kannst oder wann vielleicht genau der falsche Moment ist, wenn du keine Arbeit mehr hast und den ganzen Tag nur herumsitzt  und wartest, was passiert, dann kommt irgendwann das Gefühl, dass du doch ins Ungewisse springen musst.“

Beste Freundinnen: Viktoriia N. (li.) und Viktoriia M. Foto: Möller

Viktoriia N. ergänzt: „Irgendwann kam statt der Unruhe die Angst.“ Sie sahen, dass Busse mit Flüchtenden beschossen wurden. Und dachten sich, dass die Chance zum „Umzug“, wie Kateryna die Flucht nennt, nicht ewig bestehen bleibt. „Wir hatten tatsächlich Glück – nachdem wir über eine wichtige Verkehrsbrücke Odessa verlassen hatten, wurde diese gesperrt“, sagt die 34-Jährige.

Was packt man in einen Koffer, wenn man sein bisheriges Leben hinter sich lassen muss und nicht weiß, was kommt? Viktoriia M. legte in einer Stunde das Nötigste zusammen, vor allem warme Kleidung, weil es Anfang März noch kalt war in Odessa. „Ich habe mir beim Packen gesagt, dass ich nur für zwei Wochen wegfahre“, sagt Viktoriia N., „alles andere hätte ich nicht ertragen.“

Kateryna (li.) und Nataliia kennen sich aus dem Schwangerschaftskurs, das ist jetzt acht Jahre her. Foto: Möller

Als Kateryna  den Notfallkoffer packte, sagte ihr Mann: „Das ist doch Quatsch, wir sind doch nicht im zweiten Weltkrieg!“ Mit dem Koffer zog sie zunächst zu Bekannten in einem benachbarten Dorf um, weil sie sich dort sicherer fühlte. „Die Schwester meines Mannes ist beim Militär und riet uns schnell aus Odessa rauszugehen.“

Kateryna und ihr Sohn kehrten nicht mehr in die Stadt zurück, der Notfallkoffer steht jetzt in Nürnberg und sie wartet wie die anderen darauf, dass sie ihn bald für längere Zeit auspacken und erst mal irgendwo ankommen kann. „Und ich freue mich darauf, wieder ukrainischen Borschtsch zu kochen“, fügt Nataliia hinzu und lacht.

Witze schützen vor dem Schmerz

Die Busfahrt zum Beispiel. Zwei Tage ohne Schlaf, drei Tage unterwegs. Die Kinder falteten sich im Bus auf den Sitzen zusammen, um auszuruhen, die Frauen blieben wach. In Moldawien legten sie ein Stück des Weges zu Fuß zurück, dann ging es mit einem zweiten Bus weiter. An der rumänisch-ungarischen Grenze stand er fünf Stunden im Stau mit den anderen Bussen und Autos mit flüchtenden Frauen und Kindern.

In Nürnberg angekommen half ihnen Diana Liberova nach den Strapazen weiter – sie brachte sie in einem Hotel unter, in der nächsten provisorischen Unterkunft, hilft bei Formalitäten, dolmetscht. Allein fuhren die Frauen zu den Rathäusern der Städte und Gemeinde rund um Nürnberg, denn sie möchten schnell Wohnungen finden und Zurückkommen zu einer Art Normalität.

„Wir haben uns bis heute nicht erholt“

„Wir haben uns bis heute nicht erholt“, sagen sie. Katerynas Sohn hatte in den ersten Tagen Angst, wenn in Nürnberg die Glocken der Kirchen läuteten. Im ukrainischen Dorf war das Läuten ein Zeichen für einen nahenden Angriff gewesen. „Unser Plan ist es zu fühlen, dass wir sicher sind und dies auch tatsächlich zu realisieren. Und dass unsere Kinder wieder in die Schule gehen.“

Der Krieg habe ihnen ihre Zukunft genommen. Die Gegenwart: Jeden Morgen die Liebsten in der Ukraine kontaktieren, nachfragen, wie die Nacht war. Die Bedrücktheit in den Stimmen hören. Immer wieder nachsehen, wann sie das letzte Mal online waren. Nicht zu viele Nachrichten sehen, „sonst weinen wir Tag und Nacht“, sagen sie. Sie machen vielleicht den Eindruck stark zu sein, doch sie sind fertig, erschöpft.

Wir verabschieden uns, umarmen uns. Reden, fragen, antworten, zuhören – das sind die Brücken, die uns miteinander verbunden haben. Ich bin zutiefst dankbar dafür.