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Sabine Böhm verantwortet die Nürnberger Frauenberatungsstelle mit und sagt: Natürlich gehe ich zur Bundestagswahl, aber viel Hoffnung auf politischen Wandel habe ich nicht.

Ute Möller
09.09.2021
Lesezeit: 9 Min.

Bundestagswahl ist kein Grund zur Hoffnung

Mehr Geld für Frauenhäuser, eine neue Gesetzgebung zur Prostitution und ganz sicher kein Rollback: Was sich für Sabine Böhm von der Nürnberger Frauenberatung nach der Wahl ändern sollte

Bald ist es an der Zeit zu wählen und es gibt viele Stimmen, die sich von der Bundestagswahl am 26. September neben der absolut notwendigen ökologischen Neuausrichtung auch frauenpolitisch eine neue Weichenstellung erhoffen. Studien zeigen, dass in der Coronapandemie häufig Frauen die Care-Arbeit trugen und sich traditionelle Familienmuster verfestigten. Ich spreche mit Sabine Böhm, der geschäftsführenden Vorständin der Frauenberatung Nürnberg für gewaltbetroffene Frauen und Mädchen, über ihre Erwartungen an die Bundestagswahl. Schnell wird in unserem Gespräch klar: Besonders hoch sind die nicht. Zu lange schon liegen die Probleme auf dem Tisch, zu lange schon tut sich politisch zu wenig für die Frauenberatungsstellen im Land.

Liebe Sabine, die großen politischen Parteien äußern sich in ihren Wahlprogrammen auch zu Frauenhäusern und Frauenberatungsstellen. Die SPD will das „Hilfesystem aus Beratungsstellen, Frauenhäusern und anderen Schutzeinrichtungen weiterentwickeln“.  Die Grünen möchten einen gesetzlichen Rechtsanspruch auf Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt einführen und deutlich mehr Frauenhausplätze schaffen. Der Bund soll Länder und Kommunen finanziell entlasten. Die Linke forderte eine „bundeseinheitliche Pauschalfinanzierung für Frauenhäuser und Beratungsstellen mit Beteiligung des Bundes“. Die FDP stellt sich einen „bedarfsgerechten“ Ausbau der Frauenhausplätze und eine bundeseinheitliche Finanzierung vor. Nur die CDU/CSU äußert sich nicht zu konkreten Maßnahmen zum Schutz von Frauen und Mädchen. Der Deutsche Frauenrat hat in seinem Gleichstellungs-Check die frauenpolitischen Ziele in den Wahlprogrammen der großen Parteien sehr gut zusammengefasst. Setzt Du in eine bestimmte Partei besondere Hoffnungen?

Sabine Böhm: Pauschalfinanzierung und bundeseinheitliche Finanzierung sind gute Stichworte. Denn wenn man einzelne Plätze finanziert, muss man aufpassen, dass die Bürokratie nicht unendlich groß wird und man das Kerngeschäft gar nicht mehr gestemmt kriegt. Die Forderung ist tatsächlich, dass die Plätze in den Einrichtungen aufgestockt und pauschal finanziert werden. Dann stellt sich auch nicht mehr die Frage, woher eine Frau kommt. Wir haben es schon erlebt, dass eine Frau aus dem Landkreis weggeschickt werden musste, weil die Landkreisplätze schon voll waren.

Arbeitest Du vor Wahlen die Programme der Parteien durch und guckst, was die sich im Bereich Gewaltschutz überlegt haben?

Nein, das mache ich nie. Ich bin ich eine ganz personenbezogene Wählerin. Im Sinne von: Wem nehme ich was ab und wer fühlt sich für mich authentisch an? Oder ich kann erkennen, welche Partei etwas wirklich ernst gemeint hat. Nehmen wir das Thema Paragraf 219a. Also das Verbot für Kliniken und Ärzte, für Abtreibungen zu werben, plus die grundsätzliche Reform des Abtreibungsrechts. Da haben die Grünen bewiesen, dass sie das wirklich wollen. Im Gegensatz zur SPD, die mich sehr enttäuscht hat. Sie hätte die Möglichkeit gehabt, das Werbeverbot für Abtreibungen zu kippen, wahrte dann aber die Koalitionsdisziplin.

Was sind in der Frauenberatung Eure größten Herausforderungen und was würdest Du politisch fordern?

Die größten Probleme haben wir im Finanzierungsbereich. Wir wissen, dass es ein großes Dunkelfeld von Frauen gibt, die Gewalt erlebt haben, sich aber keine Unterstützung holen. Und zwar nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil es dort wo sie wohnen keine Angebote gibt. Es müsste also ein flächendeckendes Netzwerk von Beratungsstellen und Frauenhäusern geben. Beispielrechnungen im Zusammenhang mit der Istanbulkonvention gehen davon aus, dass es pro 10 000 Einwohnerinnen und Einwohnern einen Frauenhausplatz und einen Beratungsplatz bräuchte. Das überhaupt mal anzustreben und dafür Pläne aufzulegen, wäre etwas Handfestes.

Die Finanzierung der Frauenhäuser und Beratungsstellen ist ein großer Flickenteppich. Der Bund kann nur Projekte anschieben, letztlich zuständig sind die Länder. Wie gut steht Bayern da?

Grundsätzlich haben Länder, die länger von der SPD regiert wurden, eine bessere Ausstattung. Aber auch dort gab es in den letzten Jahren Kürzungen. In Bayern hat es lange gedauert, bis die Politik einsah, dass wir überhaupt Probleme mit Gewalt gegen Frauen haben und etwas tun müssen. Vor zwei Jahren wurden in Bayern die Mittel aufgestockt, was wirklich gut war. Aber es reicht eben längst nicht. Eine bundesweite Pauschalfinanzierung wäre traumhaft, aber der Föderalismus wird das zu verhindern wissen.

Finanzierung ist das ganz große Thema, quasi die Bedingung für Eure Arbeit. Bei welchen inhaltlichen Problemen sollte sich Politik stärker engagieren?

Es macht zwar nur einen kleinen Teil unserer Beratung aus, aber wenn sich Frauen aus Gewaltbeziehungen trennen und Kinder haben, dann gibt es wegen des gemeinsamen Sorgerechts für die Eltern eben auch das Umgangsrecht. Das muss verwirklicht werden und die Mütter müssen dabei mitwirken. Das heißt aber in der Regel, dass sie den Gewalttäter bei jeder Übergabe der Kinder sehen und der kann ihnen viel Ärger machen. In der Debatte über das Kindeswohl wird zu wenig beachtet, dass es den Kindern übel bekommt, wenn sie eine traumatisierte Mutter zu Hause haben und es bei Übergaben immer wieder zu Gewaltausbrüchen kommt. Da würde ich mir einen verbindlichen Bundesstandard wünschen. So wie man durchgesetzt hat, dass es erst mal nur das gemeinsame Sorgerecht gibt und man sich aktiv dagegen entscheiden muss, kann man doch wohl die fortgesetzte Traumatisierung der Kinder auch in den Griff kriegen.

Und wie?

Es müsste mehr begleiteten Umgang geben, aber die Wartezeit auf einen solchen Platz beträgt mehrere Monate. Bislang haben immer die Frauen den Schwarzen Peter, wenn es bei den Übergaben nicht klappt. Wenn die Männer lächeln oder Gummibärchen dabei haben, heißt es schnell: Ist doch alles in Ordnung! Aber wir haben es mit Frauen zu tun, die nie zur Ruhe kommen, und fordern deshalb Standards, auf die man sich berufen kann.

CDU/CSU und die Grünen wollen einführen, dass Polizeistatistiken endlich Gewalt gegen Frauen explizit aufführen. Bislang fehlen diese Zahlen, was es schwer macht, die Taten zu analysieren. Das Sexualstrafrecht wurde vor zwei Jahren angepasst. Frauen müssen nach der Tat nicht mehr nachweisen, dass sie sich massiv körperlich gewehrt haben, damit es sich juristisch um eine Vergewaltigung handelt und nicht nur wie zuvor um eine sexuelle Nötigung. Stichwort „Nein heißt Nein!“ Geht Dir das weit genug?

Es war uns lange ein großes Anliegen, dass das Sexualstrafrecht verändert wird. Insofern begrüße ich die Reform. Aber ich finde, wir sollten weg von „Nein heißt Nein“  hin zu der Haltung „Ja heißt Ja“. Wir haben jetzt die Fälle, wo Frauen „Ne“ sagen und sich dann wegducken, weil sie denken, dass sie ihre Ablehnung doch ausreichend signalisiert haben. Der Mann macht aber trotzdem weiter. Wenn es um die Frage ginge „Hat die Frau ,Oh ja‘ gesagt?“ wäre das eine ganz andere Botschaft.

Aber auch Männer müssen doch „Ja“ sagen, oder?

Natürlich, aber meine Erfahrung ist, dass auch wenn Frauen sehr drängend sind, Männer weniger Scheu haben „Nein“ zu sagen. Sie kriegen nicht gleich Labels verpasst wie „prüde Zicke“.

Unter Leistungsdruck stehen beim Sex aber doch alle Geschlechter, finde ich.

Selbstverständlich. Unglaublich viele Frauen und Männer stehen unter Druck mit Bezug darauf, wie viel Sexualität es denn sein muss und welche wilden, ausgefallenen Arten von Sex es sein sollten. Wir haben viele Klientinnen, die die Vorstellung haben: Das muss man doch heute alles tun! Ich bin dann immer ganz erschrocken. Junge Mädchen mit 14 oder 15 Jahren machen sich Sorgen. Sie haben sich mit Jungs Pornos angeguckt und finden darin vieles eigentlich ganz unvorstellbar für sich selbst. Aber sie haben das Gefühl, dass Sexualität so umgesetzt werden muss. Aber ne, das muss sie nicht! Es geht nicht darum, Formen von Sexualität zu tabuisieren, aber es müssen halt beide wollen.

Ich bin davon überzeugt, dass in diesem Zusammenhang eine Änderung der Gesetzgebung zur Prostitution helfen würde. Hier haben jetzt die Frauen der Union einen Vorstoß gemacht. Die aktuelle Gesetzgebung geht völlig zu Lasten der Frauen. Es ist inzwischen gut nachgewiesen, dass die Handvoll Sexarbeiterinnen, die von Empowerment und Selbstbestimmung sprechen, eine absolute Minderheit ist. Das Gros ist Armutsprostitution und bewegt sich im Graubereich von Zwangsprostitution und Menschenhandel. Ich wünsche mir, dass  die Idee von Sexualität als käuflicher Gegenstand gesellschaftlich nicht mehr tragbar ist.

Denkst Du an das skandinavische Modell?

Ja. Ich habe nicht viele Einblicke, was da noch möglich wäre, aber ich finde die Lösung sinnvoll, dass sich Freier strafbar machen, wenn sie sich Sex kaufen.

Gewalt in Beziehungen hat während des Lockdowns zugenommen. Welche politischen Forderungen ergeben sich für Dich aus der Pandemie?

Grundsätzlich ziehe ich für mich die Lehre aus der Pandemie, dass Politiker mutiger und offener kommunizieren sollten, dass sie auch nicht immer genau wissen, was hilft. Ich war lange bereit, den Weg mitzugehen und die Einschränkungen mitzutragen. Aber am Schluss dachte ich: Nö, seid ihr doof? Welche irren Kehrtwendungen machen wir jetzt noch? Kinder und Jugendliche sind ja völlig aus dem Blick geraten. Mir hat gefehlt, dass politisch nicht danach gefragt wurde, welche Werte gesellschaftlich Priorität haben müssen.

Siehst Du wie viele andere, dass die Pandemie den Rückfall in traditionelle Rollenverteilungen in den Familien befördert hat?

Ich bin mir nicht sicher, ob es ein permanenter Rückschritt ist. Aber ich fand es wirklich erschreckend zu sehen, dass da so eine Krise kommt und plötzlich wird es wieder traditionell, was die Verteilung der Aufgaben in den Familien anbelangt. Und sogar Familien, in denen sich nie klassisch die Frau um Kinder und Haushalt gekümmert hat, diesen Rückfall in die Hausfrauenehe gemacht haben. Das scheint irgendwie genetisch zu sein. (lacht) Ich glaube nicht, dass das permanent so bleibt, aber ich glaube, dass es bei jeder ähnlichen Krise wieder so sein wird, weil offensichtlich weder die Haltung noch die Strukturen ausgeprägt genug sind, in denen das gar nicht möglich wäre.

Sprichst Du die Haltung der Frauen an, die Care-Arbeit gar nicht delegieren wollen?

Ja. Zu wenige Frauen stehen da und sagen: Jetzt liegt da die Verantwortung, mal gucken wer sie aufhebt. Das machen sie nicht und wenn es um Kinder geht dann fünf Mal nicht. Das ist aber genau der Punkt und da sehe ich leider kein Licht am Ende des Tunnels.

Verhindern also auch Frauen den Wandel?

Im Großen kann ich dazu nichts sagen, aber wenn ich in mein privates Umfeld gucke, dann ist da durchaus was dran. Das mach ich schneller, ich kann das routinierter, weil ich das schon immer mache: Diese Haltung befördert sicher nicht die Veränderung. Ich wünschte mir, dass Frauen da mehr Gelassenheit entwickeln. Ich verstehe aber auch, dass Frauen keine Lust aufs Abgeben haben, wenn der Partner es mal nicht so gut macht und das Kind Schnupfen hat, weil es nichtig warm genug angezogen war.  Dann können die Kinder eine Woche nicht in die Schule, der Vater denkt nicht daran, bei den kranken Kindern zu bleiben. Dann ist die Sorgearbeit wieder bei den Müttern angekommen. Ich finde es schwer zu entscheiden, wer da Henne und wer Ei ist.

Ist die anstehende Bundestagswahl vor dem Hintergrund des Rollbacks aus frauenpolitischer Sicht besonders wichtig?

Meine Hoffnungen sind da quasi gar nicht existent. Was wir in diesem Wahlkampf erleben, ist erschreckend. Was mit Annalena Baerbock, der Kanzlerkandidatin der Grünen, passiert, ist vergleichbar mit der Demontage von Hillary Clinton im US-Wahlkampf. Wäre Hillary Clinton ein Mann gewesen, hätte sie 2016 die Wahl gewonnen. Auch gegenüber Annalena Baerbock werden alle Klischees, die man Frauen gegenüber haben kann, aufgeführt, um sie zu demontieren. Zum Beispiel, dass sie manipulativ sei, eine zu hohe Stimme habe, zu viel gestikuliere.  Ich frage mich dann immer: Und was war mit Frau Merkel, hat sie als Kanzlerin für die Frauen in der Politik gar nichts bewirkt? Aber Angela Merkel hat sich als Frau aus meiner Sicht gleichsam ausradiert und war dann irgendwie „die Kanzler“ und das -in kam erst nach einer langen Pause.

Man kann Annalena Baerbock zwar den Vorwurf machen, dass sie sich ihr Beraterteam nicht gut genug ausgesucht hat. Aber was sie an Shitstorms bekommt ist tausendmal mehr als die männlichen Bewerber.

Du wirkst schon etwas ernüchtert mit Blick auf die Wahl.

Ich werde auf jeden Fall wählen, das ist klar. Das zu können ist nicht selbstverständlich, sondern es ist ein Recht, für das viele Frauen lange gekämpft haben. Und das es nicht in allen Ländern gibt. Ich habe zumindest die Hoffnung, dass es keine großen Rückschritte gibt. Die AfD macht in Land und Bund nicht nur bei Genderthemen eine Obstruktionspolitik, die die demokratischen Abläufe verstopfen soll. Sie vergiftet die Kommunikation. Da kriege ich große Beklemmungen und hoffe, dass die AfD nicht noch mehr Stimmen kriegt. Und alles andere ist, wie es eben ist.

Sabine Böhm

Sabine Böhm arbeitete nach ihrem Studium der Soziologie und Pädagogik an den Universitäten Erlangen, München und Augsburg mit den Schwerpunkten Genderstudies und Entwicklung der Arbeitsgesellschaft. Sie ist außerdem Traumafachberaterin. Sabine Böhm leitet als eine von zwei geschäftsführenden Vorständinnen die Nürnberger Frauenberatung und ist eine von drei Sprecherinnen der Arbeitsgemeinschaft der Frauennotrufe in Bayern.

Leiterin der Nürnberger Frauenberatung, Sabine Böhm