Foto: Vierfotografen.de/Miu Reck

Julia Kremer ist in den sozialen Medien bekannt als Kämpferin für Bodypositivity

Ute Möller
20.08.2021
Lesezeit: 5 Min.

Genug geschämt

Bodypositivity und Corona: Die Pandemie hat uns nicht toleranter gemacht

Zugegeben: Dieser Text ist schon kurz nach dem ersten Corona-Lockdown entstanden. Als schnell klar wurde, dass Homeoffice, Homeschooling und Ausgangssperren die Liebe zum eigenen Körper für viele nicht leichter machten.

Im Gegenteil. Das Leben daheim, im Jogginanzug und ungeschminkt, hätte die Toleranz für den (zum Glück gesunden) Körper stärken können. Stattdessen zeigte sich erst so richtig, wie groß der Druck auf Frauen und auch Männer ist, doch bitteschön einen perfekten Körper zu haben.

Und jetzt, im Sommer nach der dritten Welle, beobachte ich nicht nur bei meiner Teenager-Tochter, sondern bei vielen Mädchen, wie sehr sie unter den Kilos leiden, die in den bewegungsarmen Lockdown-Monaten dazu gekommen sind. Es hilft nichts, ihnen zu sagen, wie hübsch sie sind. Sie glauben es nicht und vergleichen die Dicke ihrer Oberschenkel.

„Hässlich, Fetti, Spanferkel“

Ich sprach im letzten Sommer mit dem bekannten Curvy-Model und Bloggerin Julia Kremer. Die Hamburgerin startete im Sommer 2020 mit ihrer Freundin, der Bodypositivity-Aktivistin Verena Prechtl, unter dem Hashtag #respectmysize eine Aktion auf Instagram.

Seit über acht Jahren kämpft Julia Kremer mit ihrem Blog „SchönWild“ gegen Bodyshaming. Hässlich, Fetti, wertlos, Spanferkel – die Beleidigungen sind maßlos, mit denen Menschen mit mehr Leibesfülle leben müssen. Die Kampagne im letzten Jahr reagierte auf das Interview mit einer Hotelbesitzerin aus Norddeutschland.

Schimpfworte auf der Haut

Sie finde es „persönlich diskriminierend“, den Anblick übergewichtiger Menschen ertragen zu müssen, ließ die sich zitieren. Julia Kremer, Verena Prechtl und viele Mitstreiterinnen reagierten in den sozialen Medien mit Fotos, auf denen sie sich die krassesten Schimpfwörter auf die Haut schrieben, die sie immer wieder zu hören bekommen. Die Aussage sei für jeden mehrgewichtigen Menschen ein Schlag ins Gesicht und zeige, dass es komplett legitim geworden ist, jemanden auf sein Gewicht zu reduzieren, sagte mir Julia Kremer.

Sie ist seit dem ihren Weg konituierlich weiter gegangen: Sie wurde zur Miss Hamburg gewählt und Vierte bei der Wahl zur Miss Germany 2021. „Ich will erreichen, dass dicke Frauen nicht mehr diskriminiert werden“, sagte sie vier Tage vor der Finalshow dem Magazin „Der Spiegel“. „Ich will, dass sich Sehgewohnheiten verändern, dass sich die Gesellschaft an dicke Menschen gewöhnt.“

Verena Prechtl / Credits: Vierfotografen.de/Miu Reck
Aktivistin für Bodypositivity: Verena Prechtl. Foto: Vierfotografen.de/Miu Reck

Stereotype als Fokus in den sozialen Medien

„Man hätte annehmen können, dass sich die Menschen in der Coronakrise auf andere Werte fokussieren als auf Aussehen und Gewicht“, sagte mir die ebenfalls in Hamburg lebende Body-Positivity-Aktivistin und Bloggerin Melodie Michelberger. Im Januar 2021 erschien ihr Buch „Body Politics“.

Doch obwohl die Menschen während der Corona-Lockdowns daheim im Jogginganzug herum hingen und sich das tägliche Zurechtmachen sparen konnten, sei es viel ums Aussehen gegangen. „In den sozialen Medien war der Fokus stark auf gängige Schönheitsideale gerichtet“, sagte Michelberger.

Das habe sie erschreckt. Viele, die vorher nie über körperbezogene Themen posteten, hätten dies plötzlich getan. „Eine frühere Kollegin von mir, die immer von sich behauptet hat, dass sie alle Körper schön findet, postete eine klassische Barbie und eine mit Kleidergröße 46. Ihr Kommentar: Letztere zeige sie nach dem Lockdown.“

Es war niemals witzig

Es sei aber schon vor Corona nicht witzig gewesen, sich über dicke Menschen lustig zu machen, schrieb Michelberger auf Instagram unter #aftercoronabody. „Doch die Krise offenbart Bodyshaming in ungewohntem Ausmaß.“ Was für Menschen wie sie, die schon als Kind darunter litt, wegen ihres fülligen Körpers gemobbt zu werden, extrem belastend sei. „Viele flapsig formulierte Posts machen sich im Netz über dicke, mehrgewichtige Körper lustig, was zutiefst verletzend für alle ist, die in eben diesen Körpern tagein tagaus leben.“ Die 44-Jährige bekam für diesen Post über 2400 Likes.

In der Coronakrise hat sich gezeigt, wie schwer der normative Druck der Gesellschaft auf unseren Körpern lastet. Bodyshaming, also die Diskriminierung von Menschen, deren Körper dicker, kleiner, breiter oder schmaler sind als das, was der Mainstream als schön definiert, wurde zum Running Gag.

Julia Kremer trat 2021 für den Titel Miss Germany an und wurde Vierte. Foto: Vierfotografen.de/Miu Reck

Beratungsstellen für Menschen mit Essstörungen telefonierten im Lockdown besonders häufig mit Betroffenen. Der persönliche Austausch sei für diese wichtig, sagte Silke Tauschek-Hertzberg von der Fachberatung „dick und dünn Nürnberg e.V.“. Im Lockdown gab es aber keine Gruppentreffen, dafür wuchs der Druck durch die sozialen Medien. Ihre Klienten fühlten sich allein gelassen.

Wegfall der Routine

Der Wegfall der täglichen Routinen, das Homeoffice direkt neben dem Kühlschrank, viel Zeit für die Beschäftigung mit sich selbst – für Menschen mit Essstörungen konnte der Lockdown ihr Leiden verschlimmern. Andere seien froh gewesen, dass sie sich den Bewertungen durch andere nicht aussetzen mussten.

Dicke sind faul und haben sich nicht im Griff, dünne Menschen sind strebsam, ehrgeizig und erfolgreich. Diese Stereotypen sind es, gegen die sich Melodie Michelberger wehrt. „Seit ich sieben Jahre alt war, habe ich gehört, dass ich zu dick bin.“ Sie habe immer das Gefühl gehabt, mehr leisten zu müssen als ihre dünne Schwester, um etwas wert zu sein.

Dabei sorgte sie früher als Mitarbeiterin von Frauenzeitschriften selber dafür, dass „sich viele Frauen unglücklich fühlen“. „Dabei ist in Deutschland die durchschnittliche Kleidergröße bei Frauen 42/44. Und nicht 36.“
Auch die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Nürnberg, Hedwig Schouten, kritisiert den Selbstoptimierungswahn, der sich in der Pandemie deutlich gezeigt habe. Menschen wegen ihres Körpers zu diskriminieren, sei ein großes Problem. Auch bei Vorstellungsgesprächen.

„Wir sollten uns durch das Aussehen nicht zu voreiligen Schlüssen verleiten lassen“, weshalb die Gleichstellungsstelle bei Bewerbungsgespräch in der Stadtverwaltung so oft wie möglich dabei sei.

Bloggerin Melodie Michelberger setzt sich für mehr Bodypositivity ein und schrieb das Buch "Body Politics"
Melodie Michelberger setzt sich in ihrem Buch „Body Politics“ für diversere Körperbilder ein. Foto: Michelberger

Bei den Kindern anzusetzen, sie darin zu bestärken, dass sie gut sind, wie sie sind, ist für Hedwig Schouten genauso wichtig wie für Melodie Michelberger. Schon die Kleinen in der Kita dazu zu bringen, dass sie sich in ihrem Körper wohl fühlen, sei wichtig.

Denn Selbstakzeptanz sei auch ein starkes Mittel gegen hate speech in den sozialen Medien, meint Schouten. „Hasskommentare, die sich gegen Beiträge von Frauen wenden, heben oft auf deren Aussehen ab“, und versuchten auf diese Weise, Frauen mundtot zu machen.

„Ich nehme Hasskommentare nicht persönlich“

Auch Bloggerin Julia Kremer bekommt Hasskommentare. Sie lasse diese aber immer seltener an sich heran. „Ich nehme sie nicht persönlich, sondern sehe sie als Zeichen dafür, wie groß die Vorurteile und die strukturelle Diskriminierung in unserer Gesellschaft nach wie vor sind.“

Doch diese Distanz musste sie sich aneignen. „Ich habe mir Hilfe geholt und eine Therapie gemacht. Ich habe gelernt, Grenzen zu setzen und Mitgefühl mit mir zu haben.“

Wichtig sei für sie der Zusammenhalt unter den rund 50 Plus Size-Bloggerinnen in Deutschland. Aber ohne die Männer funktioniere Veränderung nicht, ist Kremer überzeugt. Sie seien es, die Frauen auf ihre Körper reduzieren. „Und sie müssen wir auch einbeziehen, um das Problem zu lösen.“