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Haben das Tribunal "NSU-Komplex auflösen" in Nürnberg mitorganisiert (v.li.): Lydia M. Taylor, Daniel Schmidt, Andrea Kuhn, Friederike Lange.

Ute Möller
29.05.2022
Lesezeit: 4 Min.

Angehörige der NSU-Opfer haben noch viele Fragen

Tribunal "NSU-Komplex auflösen": Anerkennen. Aufklären. Verändern" vom 3. bis 5.Juni 2022 in Nürnberg: Losgehen für eine neue Erinnerungskultur

Rechter Terror steht in Nürnberg in einer langen Kontinuität, Rassismus ist für viele Menschen Alltag, die Perspektive der Opfer muss stärker Eingang finden in die Debatte über rechtsextreme Gewalt: Das Tribunal „NSU-Komplex auflösen“, das am Pfingstwochenende von Freitag, 3.Juni 2022, bis Sonntag, 5.Juni, in Nürnberg stattfindet, lädt zu einem breiten zivilgesellschaftlichen Diskurs ein. Ziel ist auch eine Neudefinition von Erinnerungskultur. Dies ist in Nürnberg aus unterschiedlichen Gründen derzeit besonders aktuell.

„Die Erinnerung an Opfer rechtsextremer Gewalt war lange zivilgesellschaftlich organisiert“, sagt Daniel Schmidt, Mitorganisator des Tribunals „NSU-Komplex auflösen“: Anerkennen. Aufklären. Verändern.“. Als in den 90er Jahren die Frage, wie an Opfer der Nazi-Diktatur erinnert werden sollte, intensiv geführt wurde, habe auch der selbsternannte „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) mit seinen Attentaten begonnen. „Das Zusammenfallen der Debatte über Erinnerungskultur mit neuen strukturellen, rechtsradikalen Übergriffen muss thematisiert werden“, sagt Schmidt, der eigentlich anders heißt, sich durch den für die Öffentlichkeit gewählten Namen aber schützen möchte.

Erinnerungskultur umfasst nicht nur NS-Zeit

Zu Erinnerungskultur gehöre es zu erkennen und im öffentlichen Bewusstsein zu halten, dass rechtsextreme Attentate eine Kontinuität in der Nürnberger Nachkriegsgeschichte haben. Andrea Kuhn, Gesamtorganisatorin des Tribunals, nennt in diesem Zusammenhang die Tat des Rechtsterroristen Helmut O., der im Juni 1982 in der Diskothek „Twenty Five“ in der Königstraße in Nürnberg, die als Treffpunkt von Menschen mit Migrationsgeschichte bekannt war, und anschließend auf offener Straße insgesamt drei Menschen tötete. Drei weitere verletzte er schwer. Bereits 1980 brachten Rechtsradikale Shlomo Lewin und Frida Poescke in ihrer Wohnung in Erlangen um.

„Über diese Kontinuität spricht keiner, auch die Stadt erinnert zu wenig an sie, ebenso wenig thematisiert sie den alltäglichen Rassismus“, meint Andrea Kuhn. Erinnerungskultur dürfe nicht nur die Nazi-Zeit umfassen, sondern müsse alle rechten Terrorakte sowie ausdrücklich die Perspektive der Opfer und von deren Angehörigen betrachten.

Der NSU mit den Rechtsterroristen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Tschäpe ermordete zehn Menschen, in Nürnberg töteten sie Enver Simsek (2000), Abdurrahim Özüdoğru (2001) und Ismail Yaşar (2005). Dass erst 2021 ein Platz nach Enver Simsek benannt wurde und im Juni 2022 ein Platz nach Ismail Yasar, gehe auf den anhaltenden Druck aus der Zivilgesellschaft zurück. „Deshalb werden jetzt Tatorte rechtsradikaler Mode in einen würdigen Zustand versetzt.“

Angehörige der NSU-Opfer fordern weitere Nachforschungen

Die Angehörigen der Opfer hätten noch viele offene Fragen und „offene Wunden“. „Sie möchten wissen, warum es ihren Mann und Vater traf, wer noch zum Umfeld der Täter gehörte, wie weit die Verflechtungen gehen und ob sie fürchten müssen, Mittäter täglich auf der Straße zu treffen“, sagt Schmidt. Dass die Angehörigen der Opfer zunächst von den Ermittlungsbehörden verdächtigt wurden, trage wesentlich mit zu den Wunden bei, die sich nur schwer schließen ließen. Die Organisatoren, zu denen auch Friederike Lange aus Nürnberg gehört, setzen einige Hoffnungen in den zweiten NSU-Untersuchungsausschuss des bayerischen Landtags. „Wir haben Ausschussmitglieder zum Tribunal eingeladen, auch weil sie hier die Möglichkeit zum intensiven Austausch mit den Angehörigen haben“, sagt Schmidt.

Diese werden ebenso zu den Workshops am Samstag, 4.Juni, ins Nürnberger Staatstheater kommen, wie Opferanwältinnen oder Vertreterinnen und Vertreter von antirassistischen Initiativen und migrantischen Organisationen. „Diese haben in Nürnberg oft nebeneinander her gearbeitet, bei der Vorbereitung des Tribunals kam es zu vielen Vernetzungen und davon kann die weitere Arbeit in Nürnberg nur profitieren“, freut sich Lange.

Am Freitag beginnt das Tribunal an drei dezentralen Orten, „es geht darum, die Opfer zu beklagen und in den Mittelpunkt zu stellen“, erklärt Lange. Aktionen finden statt in der Villa Leon, in der Desi und bei DIDF. „Am Samstag tragen wir das Thema ins Staatstheater und wollen in Workshops Forderungen formulieren.“

Angehörige wollen sich vernetzen

Kommen werden auch Angehörige der Opfer des rassistisch motivierten Anschlags am Olympia-Einkaufszentrum in München im Juli 2016. Der 18-jährige Täter erschoss neun Menschen mit Migrationshintergrund, die meisten von ihnen Jugendliche. Fünf weitere wurden verletzt und viele traumatisiert. Zunächst gingen die Ermittlungsbehörden davon aus, dass sich der Täter für Mobbing rächen wollte. Erst später stufte das Bayerische Landeskriminalamt die Tat als rechtsextremistischen Anschlag ein. „Die Angehörigen möchten sich mit anderen Opfern vernetzen“, sagt Lange. Am Sonntag wird das Thema mit einem Flashmob zum Aufseßplatz in die Stadtgesellschaft getragen.

„Es ist davon auszugehen, dass den Terroristen sehr bewusst war als sie 2000 den Blumenhändler Enver Simsek in Nürnberg-Langwasser erschossen, dass sie dies in unmittelbarer Nähe zum NS-Gelände taten“, sagt Schmidt. Die Organisatoren des Tribunals – übrigens rund 300 Ehrenamtliche aus dem ganzen Bundesgebiet –  bringen die Veranstaltung auch deshalb nach Nürnberg, um die Debatte über die Erinnerungskultur zu erneuern. Auf dem Reichsparteitagsgelände werde  zu wenig an die Opfer des NS-Regimes erinnert, etwa an die russischen Zwangsarbeiter, die dort untergebracht waren.

Kongresshalle: Geschichte der Migrantinnen und Migranten nicht vergessen

Und was sei eigentlich mit der jüngeren Geschichte von Migrantinnen und Migranten? An diese zu erinnern, werde oft vergessen. So arbeiteten zum Beispiel in der Kongresshalle viele Migrantinnen und Migranten im Lager des Versandhändlers Quelle. Aus dieser Zeit finden sich in der Kongresshalle, die gerade von Schadstoffen befreit wird, damit dort die Kulturszene und der Backstage-Bereich der Oper für die Zeit des Interims einziehen können, Hinweisschilder in unterschiedlichen Sprachen. Diese zu überstreichen, wäre schade, findet Schmidt. Egal wie man dazu steht, dass das sanierungsbedürftige Nürnberger Opernhaus einen Interimsbau an der Kongresshalle beziehen soll – eine Würdigung der Nachkriegsgeschichte des Gebäudes mit all ihren Facetten sollte doch auf jeden Fall mitgedacht werden.